Mitarbeiterbindung ist in Zeiten des Fachkräftemangels eine wichtige Währung für Unternehmen und Institutionen, um ungewollte Fluktuation zu vermeiden. Wir haben mit zwei Expertinnen über die Instrumente, Herausforderungen und den Ertrag von Investitionen in die Bindung von Beschäftigten gesprochen: Dr. Beatrix Behrens und Prof. Dr. Jutta Rump.
Frau Rump: Wie kann schon die Auswahl im Bewerbungsprozess das Risiko ungewollter Fluktuation verringern?
Dr. Jutta Rump ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Internationales Personalmanagement und Organisationsentwicklung. Zudem ist sie Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability in Ludwigshafen IBE und u. a. Botschafterin der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) des BMAS.
Jutta Rump: Zuallererst sollten Unternehmen oder Institutionen sich in einer strategischen Personalplanung klar werden, welche Kompetenzen und Qualifikationen sie in Zukunft brauchen und dies kommunizieren. Mit dieser Klarheit können dann auch Bewerberinnen und Bewerber entscheiden, ob sie bei diesem Arbeitgeber wirklich eine Perspektive für sich sehen. Dann sollte der Bewerbungsprozess ein Methodenmix mit bestimmten Testläufen sein. Dabei würde ich heute auch den Kollegen Algorithmus einsetzen: Vielleicht können vorab schon die Bewerbungsunterlagen auf der Internetplattform durch ein Tool gescannt werden, um über einen Chatbot Einstiegsgespräche zu initiieren. Parallel laufen Gespräche mit Menschen, so dass die Ergebnisse der verschiedenen Methoden für die weiteren Stufen – etwa Assessmentcenter – gematched werden können. Diese Mischung unterschiedlicher Methoden, kombiniert mit einer sauberen Datenlage, ermöglicht beiden Seiten eine richtig gute Passgenauigkeit. Und schließlich ist es wichtig, sich sehr klar darüber zu sein, was ein Unternehmen der Bewerberin oder dem Bewerber bieten kann und was nicht. Denn meist wird schon am ersten Arbeitstag klar, was nur eine Behauptung war und was Realität.
Frau Behrens, was zahlt aus Ihren Praxiserfahrungen im Bewerbungsprozess auf die Mitarbeiterbindung ein?
Beatrix Behrens: Eine der zentralen Fragen für das Personalmanagement ist, was die wichtigsten Kompetenzen sind, die wir für unsere Zukunftsfähigkeit brauchen, und wo es im operativen Geschäft Lücken gibt. Die quantitative Personalplanung muss zu den Basics gehören, eingebettet in ein Kompetenzmanagement. Ein wichtiger Faktor ist auch Schnelligkeit der Bewerbungsverfahren. E-Recruiting, aber auch Möglichkeiten eines Online-Kompetenzselbstchecks für Bewerberinnen und Bewerber sollten im Recruitingverfahren mitgedacht werden.
„Jüngere fragen stärker nach der Qualität der Zusammenarbeit und Führung.“
Und die Konzepte für die Mitarbeiterbindung müssen stimmen. Da kann ich mit Frau Rump nur sagen: lieber weniger anbieten als Angebote nicht einhalten können. Aber die Arbeitgeberattraktivität bleibt entscheidend. Der Klassiker ist weiterhin die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – insbesondere flexible Regelungen zu Arbeitszeit und Arbeitsort und eine effektive Gesundheitsförderung. Und die Jüngeren fragen nicht mehr nur nach Geld und Aufstiegschancen, sondern auch nach der Qualität der Zusammenarbeit und Führung, nach flachen Hierarchien und einer wertschätzungsorientierten, partizipativen Kultur.
Was können denn Führungskräfte tun, damit ein Betrieb attraktiv für neue Fachkräfte ist und es für die Beschäftigten bleibt?
Behrens: Führungskräfte können sich heute als Schlüsselpersonen um Nachwuchs und Neueinsteiger kümmern und ganz anders für das Unternehmen oder die Verwaltung werben. Das sehen wir insbesondere, wo es darum geht, neue Talentgruppen zu erschließen. Beim Thema Mitarbeiterbindung und Führung geht der Trend zu einer inspirierenden Führung. Im Fokus steht ein Arbeitsumfeld, in dem Beschäftigte mit den anderen, auch intergenerational, lernen können, und durch Eigenverantwortung und Selbstorganisation gute Bedingungen für ihr Engagement vorfinden. Dabei sind partizipative Ansätze in der Führung stark gefragt: Führung heute muss Potenziale fördern und Gestalter des Wandels sein. Denn auch bedingt durch die Pandemie müssen sich die Organisationen nicht nur in Sachen Digitalisierung sehr schnell verändern.
Rump: Das Anforderungsprofil für Führungskräfte ist tatsächlich sehr umfangreich. Und nur die wenigsten können dem gerecht werden. Also müssen wir grundsätzlich über Führungsstrukturen nachdenken. Eine Möglichkeit wäre, einen Teil der Führungskompetenzen auf das Team zu übertragen. Das betrifft nicht nur das Thema Partizipation, sondern auch stark agile Arbeitsprinzipien. Zudem könnten wir stärker in Führungsteams denken, in denen die Einzelnen die Rollen und Aufgaben je nach Stärken unter sich aufteilen. Für die junge Generation wiederum ist das Thema Führungsrolle gar nicht mehr so erstrebenswert. Auf diese Knappheit müssen wir Antworten finden. Auch das hat mit Fluktuation und Mitarbeiterbindung zu tun, in diesem Fall auf der Führungsebene.
Welche Personalstrategien sind für die Mitarbeiterbindung langfristig am erfolgversprechendsten?
Rump: Das Thema Lebensphasenorientierung spielt hier eine wirklich große Rolle, die nach der Pandemie noch viel größer sein wird. Sie hat neue Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Vereinbarkeit von Beruf und Privatem gezeigt.
„Betriebe haben in Zukunft drei Währungen: Entlohnung, selbstbestimmtes Zeitmanagement und Sinnhaftigkeit.“
Betriebe haben in Zukunft drei Währungen: die Entlohnung, die angemessen sein muss, einen stärker selbstbestimmten und souveränen Umgang mit Zeit und Purpose, also Sinnhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit. Die Kombination dieser Währungen zeigt, welche Strategien wir zur Mitarbeiteridentifikation, zur Mitarbeiterbindung und -entwicklung, aber auch zum Thema Balance von Beruf und Privatleben brauchen. Wenn Sie es zu Ende denken, ist das eine Individualisierung: Wir nehmen jeden einzelnen Menschen in der Persönlichkeit, seinen Umständen, Präferenzen und Prioritäten wahr und versuchen, darauf eine Antwort zu finden.
Dr. Beatrix Behrens ist Bereichsleiterin für Organisationsmanagement an der Hochschule der BA. Zuvor leitet sie den Bereich Personalpolitik und Personalentwicklung in der BA-Zentrale. Zudem ist sie Expertin für Personalmanagement am Europäischen Institut für öffentliche Verwaltung in Maastricht.
Frau Behrens, wie lässt sich diese Individualisierung umsetzen?
Behrens: Wir brauchen eine Toolbox, mit der wir Werte und Bedarfe von drei, manchmal auch schon fünf Generationen im Betrieb flexibel und für den individuellen Bedarf abdecken können. Denn die Vielfalt in den Teams wird in ihrer Altersstruktur, aber auch weiteren Dimensionen zunehmen. Damit wird es neben dem viel diskutierten Onboarding zu Beginn auch wichtiger, wie ich Ältere in den Ruhestand begleite und vielleicht darüber hinaus Ressourcen sichern kann. Das Thema Lebensphasenorientierung ist untrennbar mit der Leistungsfähigkeit der Organisation verbunden. Es braucht deshalb eine Förderung der Beschäftigungsfähigkeit in jeder Lebensphase – also vom Einstieg bis zum Ende und vielleicht darüber hinaus. Ich glaube, das funktioniert nur mit Angeboten, die über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinausgehen. Das Lebensphasenkonzept bezieht Gender- und Age-Diversity, interkulturelle Aspekte und vieles mehr strategisch wie praktisch ein. Und wenn es gelingt, diese Komplexität mit dialogfördernden und vielseitig einsetzbaren Führungsinstrumenten zu reduzieren – etwa Mitarbeitergespräche, Führungskräfte-Feedback, oder ein Familienservice auch fürs Thema Pflege –, ist die Lebensphasenorientierung die richtige Grundlage für innovative Konzepte, Motivation und damit die Performance der Organisation.
Das lebensphasenorientierte Personalmanagement richtet sich flexibel an den unterschiedlichen und wechselnden Lebenssituationen der Beschäftigten aus. Dahinter steht die Annahme, dass Bedürfnisse von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sich einerseits grundlegend unterscheiden und sich andererseits im Laufe der Zeit ändern können. Die Unternehmen sollten deshalb über die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter informiert und gleichzeitig in der Lage sein, das Personalmanagement dynamisch anzupassen.
Lebensphasenorientierte Personalpolitik legt einen Schwerpunkt auf individuelle Kompetenzen. Dabei mobilisiert und entwickelt sie Kenntnisse, Fertigkeiten und Qualifikationen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen beruflichen, betrieblichen und persönlichen Lebensphasen.
Die Führungskraft spielt in der lebensphasenorientierten Personalpolitik eine wichtige Rolle. Sie sollte die besonderen Bedürfnisse und Belastungen von Beschäftigten in anspruchsvollen Arbeits- und Lebensphasen berücksichtigen, damit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Potenziale ausschöpfen und ihre Ressourcen entfalten können.
Stichwort Performance: Frau Rump, welchen Anteil hat Mitarbeiterbindung an der Leistungsfähigkeit von Organisationen?
Rump: Zur Leistungsfähigkeit braucht es Manpower, Zeit, Geld und technische Ausstattung. Wenn Kundenbegeisterung der zentrale Indikator für Leistungsfähigkeit ist, erreichen wir sie in aller Regel über den Menschen mit seiner Innovationskraft und Kreativität. Dazu gehört ein stärken- und talentorientierter Einsatz seiner Kompetenzen. Aber es braucht auch Engagement, also die Bereitschaft, im Team die Extra-Meile zu machen und über neue Herausforderungen nachzudenken. Die Motivation ist dabei ein Aspekt, der Kern des Engagements aber ist die Identifikation – mit der Arbeit, mit der Arbeitgeberin oder dem Arbeitgeber und mit dem Team. Das ist das, was zur Mitarbeiterbindung beiträgt, und das ist das, was Menschen die Extra-Meile gehen lässt. Nicht zuletzt basiert die Performance auf dem „alten“ Leitsatz, der für Individuen genauso wie für Organisationen gilt: „In Bewegung bleiben, ohne die Balance zu verlieren“.
Wie neu ist denn den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, dass Investitionen in die Mitarbeiterbindung sich auszahlen?
Rump: Wenn ich an die letzten Jahrzehnte zurückdenke, ist das Bewusstsein durchaus gestiegen. Das lag vor allem am Fachkräftemangel und an der demografischen Entwicklung. Die Pandemie wirkt zusätzlich wie ein Brandbeschleuniger. Alle Welt redet jetzt davon, wie sich das New Work zum New Normal entwickelt. Wir haben eine Professionalisierung bei dem Thema erlebt, müssen jetzt aber auch professionell liefern. Personalabteilungen müssen sehr kreativ sein, und ich aus der Wissenschaft muss die zukünftige Generation so professionell ausbilden, dass sie den enormen Anforderungen auch standhalten kann.
Behrens: Genau dieser Fachkräftemangel macht es in der Praxis schwierig. Ein wesentliches Merkmal von Arbeiten 4.0 ist, dass langfristige Arbeitsverhältnisse nicht die Regel sein müssen. Wenn man viele kurzfristige Beschäftigungen hat, ist der Einarbeitungsaufwand allerdings hoch, und die Akzeptanz für die Wechsel sinkt beim permanenten Team. Ich denke, wir werden uns deshalb langfristig in Richtung dualer Organisationssysteme mit festen und temporären Mannschaften und einem neuen Blick auf das Thema Mitarbeiterbindung entwickeln. Sehr wichtig ist mir, dass wir bei all diesen Diskussionen nicht die ältere Belegschaft vergessen. Über Digitalisierung und New Work wird nach meinem Eindruck sehr in Richtung Arbeitgeberattraktivität und Mitarbeiterbindung für die jüngere Generation diskutiert. Aber wie nutzen wir die Kreativität einer älteren Belegschaft, die durchaus noch innovationsfähig ist? Gerade mit Blick auf die Lebensphasen ist das wichtig. Denn das Gros der Belegschaften ist heute immer noch 45 bis 50 und hat noch sehr produktive Jahre vor sich.