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Illustration Interview

„Digitale Technologien müssen zu einer menschengerechten Arbeitsgestaltung in der Pflege beitragen“

Welche Chancen und Risiken birgt der Einsatz von digitalen Anwendungen in der Pflege? Dr. Ulrike Rösler von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz  und Arbeitsmedizin im Interview.

Digitale Technologien haben in den verschiedensten Anwendungsfeldern Einzug in die berufliche Pflege gehalten. Die Folgen, die sich daraus für die Beschäftigten sowie die Arbeitsorganisation ergeben, sind vielfältig. Vorteilen – zum Beispiel bei der Planung von Tätigkeiten – stehen Nachteile zum Beispiel in Form von neuen (psychischen) Belastungen für die Pflegekräfte gegenüber. Lesen Sie in unserem Interview mit Dr. Ulrike Rösler von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, wie sich die Digitalisierung auf die Arbeit der Pflegekräfte und die Patientenversorgung auswirkt.

Ulrike Rösler
© Baldauf & Baldauf Fotografie, Dresden - Ulrike Rösler

Welche Vor- und Nachteile für die Beschäftigten in der beruflichen Pflege sind mit dem zunehmenden Einsatz digitaler Anwendungen verknüpft?

Ulrike Rösler: Statt von „Vor- und Nachteilen“ möchte ich lieber von „Chancen und Risiken“ sprechen. Schon mit dieser sprachlichen Änderung wird ein Punkt deutlich, der mir wichtig ist: Pauschal lässt sich die Frage nicht beantworten, es kommt darauf an, was man draus macht; auf das WIE kommt es an. – Aber lassen Sie uns zunächst einen Schritt zurückgehen, bevor ich gleich auf die Chancen und Risiken digitaler Technologien für die berufliche Pflege zu sprechen komme – nämlich zu der Frage: Unter welchen Bedingungen findet Pflegearbeit gegenwärtig statt? Und an welchen Bedingungen müssen die neuen Technologien folglich ansetzen, um zu Verbesserungen für beruflich Pflegende beizutragen? Seit vielen Jahren wissen wir, dass Pflegende häufig körperlich schwere Arbeit verrichten, dass die Arbeitsintensität im Pflegeberuf überdurchschnittlich hoch ist, Störungen und Unterbrechungen häufig vorkommen, Pausen zu häufig ausfallen – um nur einige Belastungsfaktoren zu nennen. Die spannende Frage ist nun: Welchen Einfluss können digitale Technologien auf diese Anforderungen haben? Wann oder wo können sie eine Chance sein und zu Arbeitserleichterungen beitragen und welche Risiken sind zu beachten?

Chancen der Digitalisierung

Beginnen wir mit den Chancen, die laut aktuellen Forschungsarbeiten mit dem Technologie-Einsatz in der Pflege verbunden sein können. Ein erster Befund belegt einen einfachen, aber doch im Arbeitsalltag merklichen Effekt: Kleine digitale Endgeräte, also Smartphones und Tablets, wiegen deutlich weniger als eine schwere Pflegetasche. Gerade in der ambulanten Pflege kann das die Arbeit erleichtern. Auch für den Einsatz von Exoskeletten konnten erste Studien zeigen, dass diese die körperlichen Anforderungen, zum Beispiel beim Umlagern von Patient*innen in der Intensivpflege, reduzieren. Auf einen anderen Anforderungsbereich, nämlich die Arbeitszeit, zielen Videotechnologien in der ambulanten Pflege, auch bekannt als Telepflege oder Televisite. In einer umfangreichen Übersichtsarbeit konnten Odendaal und Kolleg*innen bestätigen, dass Wegezeiten dadurch verringert werden konnten – im positiven Fall bleibt so mehr Zeit für die Interaktion mit den Pflegebedürftigen. Ein weiteres Positivbeispiel sind Sensorsysteme. Hierzu konnten Barrera und Kolleg*innen für die akutpsychiatrische Pflege zeigen, dass diese dabei helfen können, kritische Situationen, beispielsweise aggressives Verhalten gegenüber Pflegenden während der Nachtschicht, zu verringern.

Ulrike Rösler

Ulrike Rösler

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)

Dr. Ulrike Rösler leitet die Gruppe „Arbeitsgestaltung bei personenbezogenen Dienstleistungen“ an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Die Gruppe forscht zu Vorgehensweisen und Wirkfaktoren für die Gestaltung menschengerechter Arbeit bei personenbezogenen Dienstleistungen. Die BAuA untersteht dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und berät es in allen Fragen von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.

Risiken der Digitalisierung

Schauen wir nun auf mögliche Risiken digitaler Technologien in der Pflege. Drei Beispiele möchte ich nennen. Digitale Entscheidungsunterstützungssysteme wie die sogenannte Pflegebrille können laut einer Studie von Barbosa und Kolleg*innen die Fachlichkeit Pflegender und ihre Entscheidungsspielräume schmälern – ein Effekt, den wir in der Arbeitsgestaltung vermeiden möchten. Denn hier geht es ja darum, Tätigkeiten lernförderlich und mit ausreichenden Freiheitsgraden auszugestalten, so dass sich der Mensch in der Arbeit weiterentwickeln kann.

„Nicht wenige Erwerbstätige  berichten im Zusammenhang mit digitalen Technologien von erhöhtem Stresserleben.”

Einen weiteren Negativeffekt kennen wahrscheinlich viele aus dem eigenen Alltag. Wenn wir digitale Geräte nutzen, allen voran das Smartphone, wenden wir uns diesem Gerät, also dem Bildschirm zu. Wir können diese Aufmerksamkeit dann nicht zeitgleich einem menschlichen Gegenüber widmen. Es gibt weniger Augenkontakt und weniger direkte Zuwendung. Die Interaktion zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen kann dies beeinträchtigen. Und schließlich soll ein Risiko nicht unerwähnt bleiben, das auf das gesundheitliche Befinden der Pflegenden zielt. Nicht wenige Erwerbstätige berichten im Zusammenhang mit digitalen Technologien von erhöhtem Stresserleben. Bekannt ist das Ganze unter dem Schlagwort „Technostress“ – ein bereits in den 90er Jahren beobachtetes Phänomen. Auslöser für dieses Stresserleben sind technische Komplikationen oder nicht nutzerfreundliche Anwendungen. Und natürlich bedeutet jede Neuerung auch einen Mehraufwand, auch das kann ein Zeitfresser und damit ein Stressfaktor sein.

Digitalisierung ist ein Prozess

Insgesamt bleibt also festzuhalten: Im Zusammenhang mit dem Einsatz digitaler Pflegetechnologien sind erwünschte und unerwünschte Folgen zu beobachten. Die unterschiedlichen, zum Teil gegenläufigen Befunde lassen sich auch darauf zurückführen, dass die Forschung zu den Auswirkungen des Technologie-Einsatzes auf Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit noch am Anfang steht. Hier brauchen wir mehr Studien, die dabei helfen, auf „den richtigen Weg“ zu kommen beziehungsweise den mit der Technikeinführung verbundenen Veränderungsprozess gut zu bewältigen. Auf diesen prozesshaften Charakter verweist auch der Rat der Arbeitswelt in seinem kürzlich erschienenen Bericht. Der Rat betont, dass Digitalisierungsprozesse mit der Einführung neuer Technologien nicht abgeschlossen sind, sondern eine kontinuierliche Begleitung benötigen. Wie das gehen kann, erforscht ein aktuelles Projekt des Instituts für Technologie und Arbeit Kaiserlautern. Hier wird daher ein sogenannter Digital Companion entwickelt, der Pflegeeinrichtungen in der digitalen Transformation begleiten und unterstützen soll.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden, damit die Digitalisierung die berufliche Pflege positiv verändert?

Rösler: Ich beantworte diese Frage aus der Perspektive des Arbeitsschutzes und möchte dafür auf drei zentrale Voraussetzungen zu sprechen kommen. Fragen der Finanzierung, des Datenschutzes, der technischen Infrastruktur und auch der Kompetenzentwicklung sind ebenso bedeutsam, hier liegt jedoch nicht mein Fokus.

Arbeitsschutz und menschengerechte Arbeitsgestaltung

Eine erste Prämisse muss aus Sicht des Arbeitsschutzes das Ziel einer menschengerechten Arbeitsgestaltung sein. Dahinter steckt die Frage nach dem WARUM des Technologie-Einsatzes. Zu diesem Ziel muss der Technologie-Einsatz beitragen! Was bedeutet „menschengerechte Arbeitsgestaltung“? Wir meinen damit Arbeitstätigkeiten, die den Kriterien der Schädigungslosigkeit, Ausführbarkeit, Beeinträchtigungsfreiheit sowie der Gesundheits- und Persönlichkeitsförderlichkeit genügen und angemessene soziale Rahmenbedingungen gewährleisten. Konkret zu nennen sind Merkmale wie Anforderungsvielfalt, Ganzheitlichkeit, Bedeutsamkeit, Tätigkeitsspielraum, soziale Unterstützung oder die schon erwähnte Lernförderlichkeit.

„Eine erste Prämisse muss aus Sicht des Arbeitsschutzes das Ziel einer menschengerechten Arbeitsgestaltung sein.”

Wir wissen aus ersten Studien, dass ein gelungener Technologie-Einsatz das Erreichen dieses Ziels durchaus unterstützen kann, siehe die oben genannten Chancen – aber nicht muss. Bei der praktischen Umsetzung hilft hier die Frage: Für welche arbeitsbedingten Belastungsfaktoren, die in der jeweiligen Einrichtung zu verbessern sind, können digitale Technologien eine Lösung sein? Ich denke, darauf will auch der Rat der Arbeitswelt hinaus, wenn er feststellt, dass digitale Technik immer dann nutzt, wenn sie für die Pflegenden zu Verbesserungen führt. Das kann auch mal bedeuten, auf eine digitale Anwendung zu verzichten. Zum Beispiel beobachten wir den Einsatz der erwähnten Pflegebrillen mit gewisser Sorge, sofern sie zu einer Dequalifizierung der Pflegenden beitragen und damit das Kriterium einer lernförderlichen Tätigkeit in Frage stellen. Ein weiteres Beispiel wäre ein allein an Effizienz ausgerichteter Algorithmus zur Tourenplanung im ambulanten Dienst, der zu einer weiteren Intensivierung der Arbeit und eingeschränkten Tätigkeitsspielräumen führen könnte. Eine erste Voraussetzung ist also, dass – am besten schon während der Entwicklung – in jedem Fall aber während der Auswahl und Implementierung einer Technologie definiert wird, wie deren Einsatz die Arbeitsbedingungen positiv beeinflussen kann.

Partizipation als wichtiger Erfolgsfaktor

Eine zweite Prämisse ist ein beteiligungs- und damit auch bedarfsorientiertes Vorgehen. Mindestens vier Argumente sprechen für ein beteiligungsorientiertes Vorgehen. Pflegende sind Expert*innen für ihre Tätigkeit. Sie kennen die täglichen Abläufe, Prozesse und auch die kritischen Merkmale ihrer Tätigkeit am besten. Sie können daher auch gut einschätzen, welche Technologie gegebenenfalls hilfreich sein könnte und welche nicht. Ein zweites Argument ist, dass Beteiligung Commitment schafft, das heißt eine gewisse Akzeptanz und Verbundenheit mit der Entscheidung. Beides hilft, Vertrauen in die Innovation aufzubauen und hat Effekte, die über die konkrete Fragestellung der Technologieeinführung hinausreichen. Ich denke da an eine veränderungssensitive Organisationskultur. Diese gibt es nur mit ernst gemeinter Beteiligung und damit einem Stück „Demokratie im Betrieb“.

„Pflegende müssen die Möglichkeit haben, sich auch mit der ethischen Dimension des Technikeinsatzes auseinanderzusetzen, denn Pflege findet an und mit Menschen statt.”

Beteiligung schafft zudem Wissenszuwachs, trägt zu gemeinsamen Lernerfahrungen und damit zur Kompetenzentwicklung bei. Ein weiteres Argument, das für ein beteiligungsorientiertes Vorgehen spricht: Pflegende müssen die Möglichkeit haben, sich auch mit der ethischen Dimension des Technikeinsatzes auseinanderzusetzen, denn Pflege findet an und mit Menschen statt. In diese Situation muss eine Technologie gut integriert werden. Auch hier hilft Partizipation, das heißt eine Beteiligung der Pflegenden, ein bewusster Austausch zu mit dem Technikeinsatz verbundenen berufsethischen Fragestellungen. Eine unserer Doktorandinnen forscht aktuell zu genau diesem Thema: Wie muss eine Technikimplementierung erfolgen, die die moralischen Grundwerte der Pflegenden und Pflegebedürftigen berücksichtigt?

Gegenwärtig stellen wir fest, dass mit Blick auf die Beteiligung Pflegender in Technologieentwicklungsprojekten noch Aufholbedarf besteht. Noch immer werden digitale Technologien häufig für, nicht mit der Pflege entwickelt. Eine zweite Voraussetzung ist also, dass die Pflegenden bei der Entwicklung und Auswahl der digitalen Technologien von Beginn an einbezogen und ihre Hinweise gehört werden.

Digitalisierung darf das Menschliche in der Pflege nicht gefährden

Eine dritte Prämisse, die ich an dieser Stelle erwähnen möchte, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kernmerkmal pflegerischer Arbeit: die schon erwähnte Arbeit mit und am Menschen, das heißt die Interaktion mit der pflegebedürftigen Person. Die Forschung zur Interaktionsarbeit zeigt, dass auch diese sowohl Chancen als auch Risiken für die Gesundheit Pflegender mit sich bringt – dennoch: Die menschliche Zuwendung in der Pflegearbeit konstituiert einen wichtigen Baustein für die erlebte Bedeutsamkeit dieser Tätigkeit. Was hat das mit den digitalen Technologien zu tun? Der Einsatz von Technik hat nicht nur potenzielle Wirkungen auf die Pflegenden, sondern auch auf die Pflegebedürftigen. Diese Tatsache ist zu beachten, weil sich daraus Rückwirkungen auf das Anforderungserleben der Pflegenden ergeben!

„Die menschliche Zuwendung in der Pflegearbeit konstituiert einen wichtigen Baustein für die erlebte Bedeutsamkeit dieser Tätigkeit.”

Ein fiktives, zugespitztes Beispiel: Wenn künftig selbständig fahrende Roboter Wasser reichen und digitale Technologien die Biografie-Arbeit in der Demenzpflege übernehmen, entfallen über den Tag wichtige Interaktionssituationen zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen, die für eine gelingende Beziehungsarbeit von Bedeutung sind und in diesem Fall anderweitig zu kompensieren wären. Es ist daher zu fragen: Wie passen der für diese Tätigkeiten charakteristische „Arbeitsgegenstand“ Mensch und die digitalen Technologien zusammen? Wie kann der Technologie-Einsatz die Interaktion und die damit verbundene menschliche Zuwendung fördern? Eine dritte Voraussetzung ist also, dass der Einsatz digitaler Technologien die Qualität der Interaktion zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen direkt oder indirekt fördert, anstatt sie zu gefährden oder gar zu ersetzen. Der Rat der Arbeitswelt spricht in diesem Zusammenhang von der empfindungsbezogenen Pflege, die im Zuge der Einführung digitaler Systeme nicht verdrängt werden darf.

Welche Folgen hat die zunehmende Digitalisierung für die Versorgung von Menschen mit Pflegebedarfen?

Rösler: Hier können Kolleginnen und Kollegen aus der Pflegewissenschaft und Versorgungsforschung sicher fundiert antworten. Unser Fokus liegt auf den Erwerbstätigen, in diesem Fall auf den beruflich Pflegenden. Einen Aspekt möchte ich dennoch zu dieser Frage beisteuern. Oftmals sind die Pflegebedürftigen durchaus offen für die neuen Technologien und – ebenso wie viele Pflegende – bereit, diese auszuprobieren. Wichtig ist, dass die Entscheidungshoheit bei ihnen bleibt, das heißt, dass sie ein Stück weit mitbestimmen können, wieviel oder wie wenig Technologie in ihrer individuellen Situation zur Anwendung kommen. So wird in manchen Pflegeeinrichtungen Wert daraufgelegt, dass die assistiven Technologien „an- und abschaltbar“ sind, je nach den Bedürfnissen und der jeweiligen Indikation der zu pflegenden Person. Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass derzeit vielfältige Bestrebungen auf vielen Ebenen zu beobachten sind, um die Qualität der Versorgung Pflegebedürftiger sicherzustellen. Zu nennen sind hier neben dem Fokus Pflege im ersten Bericht des Rates der Arbeitswelt die Konzertierte Aktion Pflege oder die Pflegestärkungsgesetze. Die digitalen Technologien sind in dieser konzertierten Anstrengung eines von mehreren Puzzleteilen.