Die Pflege in Deutschland befand sich bereits vor der Pandemie an der Belastungsgrenze. Mit der Covid-19-Pandemie wurde die Arbeitssituation beruflich Pflegender nochmals zusätzlich verschärft. Gründe hierfür sind extreme Arbeitsbelastung, mangelnde personelle Ressourcen, Burn-out und Stress. Dabei ist berufliche Pflege eine gesellschaftlich sehr wertvolle und systemrelevante Arbeit. Die Weichen für die Arbeit der Zukunft mit und in den pflegerischen Dienstleistungen zu stellen ist nicht nur eine drängende soziale, sondern auch ökonomische Herausforderung. Der Rat hat sich deshalb entschlossen, einen besonderen Fokus auf die Herausforderungen in der Arbeitswelt beruflich Pflegender zu legen.
Eine am Pflegebedarf ausgerichtete, auskömmliche Personalausstattung ist die Grundvoraus-setzung für eine qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung und für gute Arbeitsbedingungen in der Pflege. Sie ist die zentrale Stellschraube, wenn es darum geht, junge Menschen für den Beruf zu gewinnen und Pflegepersonal im Beruf zu halten. Die Logiken der Ökonomisierung geraten in der Arbeitswelt beruflich Pflegender nicht selten in Widerspruch zu den Erfordernissen einer bedarfsgerechten und qualitätsorientierten pflegerischen Versorgung. Dies wirkt sich auch negativ auf die Arbeitsqualität aus.
Der Rat kommt zu dem Schluss, dass eine am tatsächlichen Versorgungsbedarf orientierte und damit bedarfsgerechte Personalbemessung unabdingbar ist, um den Belastungen und Beanspruchungen beruflich Pflegender im Arbeitsalltag wirksam zu begegnen und um die Versorgungsqualität zu erhöhen. Für die stationäre Langzeitpflege liegt ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur Personalbemessung nach SGB XI §113c vor. In einem ersten Schritt sollte eine Erprobung in der Praxis zeitnah erfolgen. Dabei ist eine Begleitevaluation zu verankern, die eine Prozess- und Ergebnisevaluation umfasst und nach vorab festgelegten Kriterien wissenschaftlich unabhängig erfolgt, mit dem Ziel die Auswirkungen auf Versorgungsqualität und Arbeitssituation zu erheben, um bei Bedarf in quantitativer und qualitativer Hinsicht nachsteuern zu können. Da für die ambulante Pflege ein solches Verfahren bislang nicht vorliegt, der Handlungsbedarf jedoch groß ist, ist zu empfehlen, diese Forschungslücke zu schließen und ein entsprechendes Projekt aufzusetzen. Für den Krankenhausbereich liegt ein im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege von Deutschem Pflegerat, Deutscher Krankenhausgesellschaft und ver.di erarbeitetes Personalbemessungsverfahren (PPR 2.0) vor. Das Instrument ist als Interimslösung kurzfristig für die unmittelbare Patientinnen- und Patientenversorgung auf allen bettenführenden Stationen einsetzbar. Es ist zu empfehlen dieses als Ordnungsrahmen, der eine bedarfsgerechte Personalausstattung vorgibt und absichert, schnellstmöglich verbindlich und bundeseinheitlich auf den Weg zu bringen. Die Aufwertung des Berufsfeldes Pflege erfordert zudem eine zeitnahe und deutliche Verbesserung des Lohnniveaus in der Altenpflege.
Beruflich Pflegende sind in der Pandemie einer erhöhten Infektionsgefahr und damit besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Doch auch vor der Pandemie waren für beruflich Pflegende oftmals erhebliche physische und psychische Belastungen und Beanspruchungen im Arbeitsalltag spürbar. Der Rat kommt zu dem Schluss, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz in der beruflichen Pflege strukturell zu stärken ist. Auf Basis der vorliegenden Erfahrungen mit der COVID-19 Pandemie sollten entsprechende Risikoanalysen und Strategiekonzepte durch die zuständigen überbetrieblichen Akteure fachlich geplant und deren Umsetzung begleitet werden.
Die Pandemie hat zu enormen Belastungen bei beruflich Pflegenden geführt. Diese benötigen daher zeitnah betriebliche und bedarfsorientierte Angebote für die sozial-emotionale und psychologische Betreuung. Die Finanzierung der Kosten sollte im ersten Schritt durch öffentliche Fördermittel erfolgen; dabei ist gegebenenfalls das Präventionsgesetz zu nutzen. Der Prozess der Gefährdungsbeurteilung muss künftig gezielter für die Umsetzung präventiver Maßnahmen - die explizit an den Verhältnissen ansetzt - im Sinne gut gestalteter Arbeit in der beruflichen Pflege nutzbar gemacht werden. Dies erfordert umfassende quantitative und qualitative Analysen zu betrieblichen Prozessen der Gefährdungsbeurteilung in den unterschiedlichen Settings der beruflichen Pflege. Der Rat empfiehlt zu prüfen, wie Anreize für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gesetzt werden können, die nachweislich und dauerhaft wirksam verhaltenspräventive und insbesondere verhältnispräventive Maßnahmen in der beruflichen Pflege implementieren. Der Rat empfiehlt des Weiteren zu evaluieren, wie derzeit vorliegende Handlungshilfen zum Umgang mit arbeitsbedingten Belastungen und zur Vermeidung gesundheitlicher Beeinträchtigungen in der beruflichen Pflege auf betrieblicher Ebene umgesetzt werden. Ausgehend hiervon muss der Wissenstransfer zu entsprechenden Handlungshilfen gestärkt werden, und zwar zielgruppenspezifisch, alltags- und reorganisationsbegleitend. Dabei gilt es auch, neue hybride Formen der Wissensvermittlung zu nutzen.
Der Rat kommt zu dem Schluss, dass gegenwärtige Transformationsprozesse in der Arbeitswelt beruflich Pflegender zu neuen Herausforderungen für den Arbeits- und Gesundheitsschutz führen. Denn professionelle Pflege- und Betreuungsarbeit wird zunehmend unter anderem in neue ambulante, digital vernetzte und hybride Dienstleistungssysteme eingebettet. Unter Beteiligung der zuständigen Ressorts auf Bundesebene ist ein interdisziplinäres Forschungs- und Transferprogramm aufzulegen. So können die zielgruppenspezifischen Auswirkungen dieser veränderten Organisations- und Arbeitskontexte analysiert werden, um arbeits- und pflegewissenschaftlich fundierte Handlungsempfehlungen zur Arbeitsgestaltung zu erarbeiten und den Transfer der Erkenntnisse in die betriebliche Praxis zu unterstützen.
Angesichts des Fachkräftemangels in der Pflege stehen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen vor der Herausforderung, mehr junge Menschen eines Ausbildungsjahrganges sowie neue Zielgruppen für die Erwerbstätigkeit in der beruflichen Pflege zu gewinnen. Künftig muss es besser gelingen, unfreiwillige Ausbildungsabbrüche zu vermeiden, inländische Arbeitsmarktpotenziale gezielter zu erschließen und neuen Zielgruppen berufliche Einstiegs- und Entwicklungschancen in der beruflichen Pflege zu eröffnen. Dabei müssen auch die Instrumente und betrieblichen Lernkontexte thematisiert werden, um individuelle Qualifizierungswege zur Pflegefachkraft systematisch zu fördern und zu unterstützen.
Es ist notwendig, die individuellen Bedürfnisse der Zielgruppen zur Fachkräftesicherung noch stärker zu beachten. Die verschiedenen Zielgruppen haben einen unterschiedlichen Bedarf an Informationen, Unterstützung und Begleitung in die berufliche Pflege. Dies muss in der Phase der Berufsorientierung, Ausbildung und in den ersten Berufsjahren noch stärker beachtet werden. Hierzu bedarf es individuell orientierter Ansprache-Strategien, Begleitkonzepte und assistiver Hilfen auf regionaler und betrieblicher Ebene. Viele Träger und Einrichtungen haben in diesen Feldern bereits Lösungen entwickelt und umgesetzt. Der Rat empfiehlt zu prüfen, inwieweit hierfür auch Zertifizierungsmöglichkeiten geschaffen werden sollten, um die Arbeitgeberattraktivität zu stärken. Der Rat empfiehlt, den Wissenstransfer mit Blick auf evidenzbasierte Konzepte und Instrumente in Kooperation mit der betrieblichen Praxis zu stärken. Begleitend dazu sind neue Steuerungsinstrumente nötig, die Arbeitgeber- und Beschäftigtendaten unter anderem zu Beschäftigungs-, Lohn- und Qualifizierungspolitik in Form eines Monitorings abbilden.
Derzeit wird angesichts bestehender Fachkräfte-Engpässe verstärkt auf Pflegekräfte aus dem Ausland gesetzt. Die Folgen der Erschließung ausländischer Arbeitspotenziale werden schon länger kritisch diskutiert. Vorliegende Analysen liefern Evidenz dafür, dass gelingende Integrationsprozesse auf betrieblicher Ebene zusätzliche Unterstützung und verlässliche Strukturen erfordern. Der Rat sieht die Notwendigkeit, auf betrieblicher Ebene qualitätssichernde Maßnahmen für eine vielfaltssensible Personal-, Team- und Organisationsentwicklung unter Beteiligung betrieblicher Interessenvertretungen zu verankern. Der Rat empfiehlt zudem regelmäßige Quer- und Längsschnittanalysen zur Arbeitsplatzintegration sowie zu individuellen Berufsverläufen der aus dem Ausland angeworbenen Pflegekräfte im längerfristigen Beobachtungszeitraum.
Die steigenden Versorgungsbedarfe und Belastungen beruflich Pflegender sowie akute Personalengpässe stellen die Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen vor neue Herausforderungen der Arbeitsorganisation und Arbeitsgestaltung. Ausgehend hiervon wird das Zusammenspiel von Arbeit, Technikeinsatz und Qualifikation in der beruflichen Pflege auf betrieblicher Ebene neu verhandelt. Die Reorganisation von Arbeitsorganisation und Arbeitsgestaltung kann – muss jedoch nicht – mit digital gestützter Arbeit in der beruflichen Pflege einhergehen. Zudem ist digital gestützte Pflegearbeit nicht automatisch besser organisierte Pflegearbeit. Ziel muss es sein, dass digitale gestützte Pflegearbeit und neue Modelle der Arbeitsorganisation einen Beitrag zur Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe leisten, Arbeitsbelastungen nachhaltig reduziert und das Fach- und Erfahrungswissen beruflich Pflegender nicht entwertet wird.
Der Rat empfiehlt, dass Forschung verstärkt auf betriebliche und auch berufsgruppenübergreifende Gestaltungsspielräume, alternative betriebliche Gestaltungswege und Folgen der Techniknutzung im Zusammenspiel von Arbeits- und Versorgungsqualität blickt. Zudem sind vertiefende und vergleichende Analysen zu den konkreten betrieblichen Rahmenbedingungen, Trägerschaften und Gestaltungspraktiken notwendig. Ebenso zu den Chancen und Grenzen der arbeitsorganisatorischen Ausgestaltung digital gestützter Pflegearbeit in den unterschiedlichen pflegerischen Settings. Wissenschaftliche Erkenntnisse zur arbeits- und beschäftigtenorientierten Gestaltung der Digitalisierung in der beruflichen Pflege müssen als Orientierungswissen stärker für den betrieblichen Alltag nutzbar gemacht werden. Im Anschluss gilt es, diese in akteursübergreifende Formate des Wissenstransfers und der Transformationsbegleitung weiterzuentwickeln. Es sind zeitnah interministerielle beziehungsweise ressortübergreifende Vereinbarungen für die Entwicklung und Umsetzung einer arbeits- und beschäftigungsorientierten „Digitalen Agenda der Pflege“ und zur Stärkung eines handlungsorientierten Wissenstransfers erforderlich.
In der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung zeichnen sich Versorgungsbedarfe und dynamische Innovationsprozesse ab, die neue und erweiterte Qualifikations- und Kompetenzerfordernisse beruflich Pflegender mit sich bringen. Gleichzeitig bedeuten sie neue Perspektiven für Aufgaben- und Tätigkeitsfelder in der beruflichen Pflege. Die Fort- und Weiterbildung kommt nicht nur der individuellen Kompetenzentwicklung zugute – sie entwickelt auch die Versorgungslandschaft in Betreuung und Pflege für die Gesellschaft weiter. Damit dies gelingt, dürfen neue Ausbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten nicht zu beruflichen Sackgassen werden. Der Rat empfiehlt, dass die zahlreichen landesrechtlich geregelten und heterogenen Ausbildungsgänge in den Pflegehelfer- sowie Pflegeassistenzberufen stärker angeglichen werden. Die Weiterqualifizierung zur Pflegefachperson auf betrieblicher Ebene ist systematisch zu fördern. Vor diesem Hintergrund ist zu evaluieren, wie sich die länderspezifischen Regelungen in den Pflegehelfer- und Pflegeassistenzberufen auf die Förderung und die Teilnahme an Weiterqualifizierung sowie auf die Übergänge und Abschlüsse zur Pflegefachperson und damit auf die Durchlässigkeit des Bildungssystems auswirken.
Die Fort- und Weiterbildung sowie der individuelle Kompetenzgewinn müssen sich für beruflich Pflegende auch materiell lohnen. Dazu braucht es mehr Transparenz über die Qualität vorhandener Weiterbildungsangebote und die Standardisierung sowie Zertifizierung von Weiterbildungsabschlüssen. Darüber hinaus ist eine Verbesserung der Refinanzierung von Weiterbildungsmaßnahmen, die nachweislich dazu beitragen, die Versorgungsqualität zu erhöhen, notwendig. Notwendig ist aus Sicht des Rates, dass die Professionalisierung der betrieblichen Personalarbeit gezielter unterstützt wird. Ein wesentlicher Baustein ist die Weiterentwicklung ausbildungs- und berufspädagogischer Standards für das Pflegebildungspersonal. Personalentwicklung sollte nicht nur auf geplante Bildungsaktivitäten abstellen, sondern auch informelle und unvorhergesehene Entwicklungs- und Lernprozesse im Prozess der Arbeit selbst stärker in den Fokus rücken. Eine lernförderliche Arbeitsgestaltung benötigt die Weiterentwicklung und Implementierung ausbildungs- und berufspädagogischer Standards für das betriebliche Bildungspersonal. Erforderlich ist zudem die Weiterentwicklung vorhandener Curricula zur Vermittlung digitaler Kompetenzen in der Ausbildung, in der Fort- und Weiterbildung für Führungskräfte sowie in der Ausbildung von Lehrkräften in der beruflichen Pflege. Der Rat empfiehlt, weitere Forschungs- und Monitoringaktivitäten zum Wandel der Arbeitswelt Pflege anzustoßen, um frühzeitig Rückschlüsse auf veränderte Qualifikations- und Kompetenzerfordernisse in der Pflegepraxis zu erhalten und diese für die Berufsentwicklung in der beruflichen Pflege nutzbar zu machen. Dies erfordert eine stärkere Einbeziehung der Sozialpartner, analog zu den in BBiG/HwO regulierten Berufen, in die Berufsbildungsforschung mit dem Ziel, eine strategische Berufsbildungspolitik in den Gesundheits- und Pflegeberufen zu stärken.
Die Politik setzt für die Arbeitswelt beruflich Pflegender oftmals die Rahmenbedingungen, die eigentliche Gestaltungs- und Innovationsarbeit geschieht jedoch auf betrieblicher Ebene. Die betriebliche Mitbestimmung gewährleistet somit, dass Beschäftigte auf unternehmerische Entscheidungen zur Zukunft ihrer Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen können. Dabei müssen auch berufsgruppenübergreifende Herausforderungen im Zusammenspiel beruflicher Pflege und anderer Gesundheits(fach)berufe in den Blick genommen werden. Der Rat empfiehlt, die Berücksichtigung betrieblicher Interessenvertretungen bei pflegespezifischen Modellvorhaben, etwa bei der Erprobung und Evaluation im Kontext der Einführung des neuen Personalbemessungsverfahrens in der Altenpflege sowie im Kontext von Modellprojekten zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege. Notwendig ist zudem die Entwicklung und Umsetzung einer regelmäßigen Betriebs-/Personalräte- und Mitarbeitervertretungsbefragung zur Mitbestimmungspraxis in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen.
Es wird ein Modellprogramm empfohlen, das darauf ausgerichtet ist, den interdisziplinären Wissens- und Kompetenzerwerb betrieblicher Interessenvertretungen in zentralen Reorganisationsfeldern der beruflichen Pflege zu fördern. Auch sollte ein entsprechendes Modellprogramm darauf zielen, zur Erweiterung des Selbstverständnisses in der Interessenvertretungsarbeit beizutragen, den Wissenstransfer arbeits- und pflegewissenschaftlichen Know-hows zu unterstützen und neue Wege zu erproben mit dem Ziel, das Gestaltungswissen für Interessenvertretungen in der Alltags- und Reorganisationsbegleitung schneller verfügbar und zielgerichteter nutzbar zu machen.