Deutschland war im internationalen Vergleich lange für seine geringen Lohnunterschiede bekannt. Entsprechend wurden Niedriglöhne bis in die 1990er Jahre hinein nur selten thematisiert. Untersuchungen zeigen, dass der Niedriglohnsektor ab etwa Mitte der 1990er Jahre bis 2006/2007 deutlich angestiegen ist und in den folgenden Jahren bei 22 Prozent und mehr stagnierte (Schmidt/Stettes, 2019; Kalina/Weinkopf, 2020; Grabka/Göbler, 2020). Ursache für den Anstieg war, dass die Bedeutung der Tarifverträge abgenommen hatte. Zudem sollten insbesondere für gering Qualifizierte zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden, indem der Niedriglohnsektor ausgeweitet wird (Fels et al., 1999). Die Hartz-Reformen festigten den Niedriglohnsektor zusätzlich u. a. durch Förderung von Zeitarbeit und der Ausweitung von Mini- und Midijobs (Klinger et al., 2013). Allerdings lässt sich seit 2016 ein leichter Rückgang des Niedriglohnsektors beobachten.
In Anlehnung an die Definition der OECD gilt ein Niedriglohn als Stundenentgelt, das geringer ist als zwei Drittel des mittleren Bruttostundenlohns (Median ) ist. So unumstritten diese Definition ist, so kontrovers diskutieren Politik und Wissenschaft, ob ein Niedriglohn eher Chance für weniger Qualifizierte ist, einen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden, oder Risiko für eine prekäre Beschäftigung, die weder existenzsichernd ist noch soziale Sicherheit und Integration ermöglicht. Eine andere Frage ist, ob gering Qualifizierte tatsächlich diejenigen sind, die vom Ausbau des Niedriglohnsektors profitiert haben. Einerseits sind nur knapp ein Viertel der Niedriglohnempfängerinnen und -empfänger tatsächlich gering qualifiziert (Kalina/Weinkopf, 2021). Andererseits ist der Anteil derjenigen mit höherer Qualifikation (mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung) hier so gering wie in keiner anderen Lohngruppe. Zudem setzt die Mehrheit der Tätigkeiten im Niedriglohnsektor nicht den Abschluss einer Berufsausbildung oder einen höheren Berufsabschluss voraus (Schmidt/Stettes, 2019).
Mit der wachsenden Bedeutung von Niedriglöhnen wurde in Deutschland auch die Forderung nach einem Mindestlohn lauter. Damit wollten die Befürworter ein Ausfransen des Lohnspektrums nach unten verhindern. Gegner eines gesetzlichen Mindestlohns befürchteten allerdings Beschäftigungsverluste.
Sie argumentierten zudem, er könne das Recht der Tarifpartner unterwandern, sich auf einen für Beschäftigte und Betriebe angemessenen Lohn zu einigen. Als die Bundesregierung 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn von damals 8,50 Euro pro Stunde einführte, wollte sie Lohndumping und einen Wettbewerb auf Kosten solcher Dumpinglöhne verhindern. Auch Transferleistungen für Geringverdienende sollten damit weniger nötig sein. Wie Studien zeigen, kann der Mindestlohn allerdings nur begrenzt zu diesen Zielen beitragen, während die Tarifbindung hier einen deutlicheren Einfluss hat (ILO, 2016).
Die Mindestlohnkommission, die mit je drei Vertreterinnen und Vertretern der Gewerkschaften und Arbeitgeber besetzt ist und von zwei wissenschaftlichen Mitgliedern beraten wird, gibt der Bunderegierung eine Empfehlung zur Anpassung der Mindestlohnhöhe über die Mindestlohnanpassungsverordnung. Dabei orientiert sich die politisch unabhängige Kommission an der Tarifentwicklung.
Bisher scheint es keine Beschäftigungseinbrüche durch den Mindestlohn gegeben zu haben. Allerdings auch keine großen Gehaltssprünge für Geringverdienende. Und im internationalen Vergleich war der Mindestlohn in Deutschland bisher relativ niedrig. Aus diesem Grund hat die Ampel-Koalition die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro beschlossen. Dieser Schritt wird in Politik und Wissenschaft kontrovers diskutiert.