Mit der Einführung des Mindestlohns wollte die damalige Bundesregierung Beschäftigte unter anderem vor unangemessen niedrigen Löhnen schützen. Wie gut erfüllt er seine Ziele im Rückblick, und was sind seine weiteren Auswirkungen und Herausforderungen am Arbeitsmarkt? Drei Fragen an die wissenschaftlichen Mitglieder der Mindestlohnkommission.
Was sind die wichtigsten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt durch den gesetzlichen Mindestlohn?
Claudia Weinkopf: Er hat bei seiner Einführung 2015 erstmals seit Jahren bewirkt, dass die Löhne am unteren Rand des Lohnspektrums gestiegen sind. Minijobberinnen und -jobber haben von mehr als 9 Prozent Anstieg profitiert, ausländische Beschäftigte ebenfalls und Beschäftigte ohne abgeschlossene Berufsausbildung hatten mehr als 7 Prozent Lohnplus. Für Beschäftigte kleiner Betriebe mit 5 bis 9 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist der Lohn sogar um mehr als 13 Prozent gestiegen. Und auch Frauen haben mit 6,8 Prozent einen stärkeren Zuwachs als der Durchschnitt erlebt. Das sind Erhöhungen, die wirklich aus dem Rahmen gefallen sind.
Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns wollte die Bundesregierung Beschäftigte unter anderem vor unangemessen niedrigen Löhnen schützen und Wettbewerb auf Kosten solcher Löhne verhindern. Hat das geklappt?
Weinkopf: Es wurde eine Lohnuntergrenze eingezogen, die legal nicht unterschritten werden darf. Man muss allerdings sagen, dass es noch einige Lücken gibt.
Audiostatement von Claudia Weinkopf zur Tarifbindung als Schutz vor unangemessen niedrigen Löhnen.
Ein Problem besteht in Deutschland darin, dass die Abgaben auf Mindestlohneinkommen relativ hoch sind, nach einer Auswertung von Eurofound beträgt die Abgabenlast mehr als 35 Prozent. In Belgien ist der Mindestlohn fast ebenso hoch wie in Deutschland, die Abgaben liegen aber nur bei etwa 5 Prozent. Unsere Mindestlöhne sind zwar knapp existenzsichernd, aber nicht wirklich auskömmlich, gerade wenn man kein Single ist, sondern beispielsweise alleinerziehend. Der Wettbewerb findet durch das Einziehen des Mindestlohns als Lohnuntergrenze tatsächlich weniger auf Kosten zu niedriger Löhne statt. Allerdings haben wir Anzeichen dafür, dass er nicht überall eingehalten wird. Wir haben Beispiele in der Praxis gefunden, bei denen Beschäftigte Vor- und Nacharbeiten unentgeltlich leisten müssen, die der Arbeitgeber eigentlich bezahlen muss. Und einige Unternehmen haben versucht, die Erhöhungen durch den Mindestlohn einzusparen, indem sie andere Leistungen gestrichen haben. Nicht gelungen ist es, den Anteil der Niedriglohnbeschäftigten spürbar zu verringern. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Niedriglohnschwelle erhöht hat.
Dr. Claudia Weinkopf leitet die Forschungsabteilung „Flexibilität und Sicherheit“ am IAQ und ist wissenschaftliches Mitglied der Mindestlohnkommission. Sie ist zudem stellvertretende Geschäftsführende Direktorin des IAQ.
Was sind die künftigen Herausforderungen beim gesetzlichen Mindestlohn?
Weinkopf: Ein Problem ist, dass die 8,50 Euro als Einstiegsniveau für den gesetzlichen Mindestlohn bereits 2010 definiert, in den fast fünf Jahren bis zur Einführung aber nicht angepasst wurden. Dadurch war der Mindestlohn im Ländervergleich von Anfang an niedrig. Und weil wir einen Anpassungsmechanismus haben, der sich an der Entwicklung der Tariflöhne orientiert, besteht für deutliche Erhöhungen auch wenig Spielraum. Es sei denn, man würde sich auf eine von der Tarifentwicklung losgelöste Anpassung in ein oder zwei Schritten einigen. Ich halte es für angemessen, wenn wir uns dabei an der Zielmarke der europäischen Ebene orientieren: Demnach sollen die Mindestlöhne in der EU auf 60 Prozent des Medianeinkommens der Länder steigen. Deutschland lag 2019 bei gerade mal 48 Prozent. Eine stärkere Qualifizierung und eine veränderte Arbeitsorganisation müssten diese Anpassung begleiten, so dass auch die Arbeitsproduktivität in den Mindestlohnjobs steigt. Mehr Investitionen in Qualifizierung sind schon deshalb erforderlich, weil sich die Anforderungen wandeln: So richtig einfache Tätigkeiten gibt es eigentlich kaum noch, fast überall sind spezielle Kenntnisse in EDV, Fremdsprachen, Kommunikation und anderen Bereichen nötig. Wo das nicht der Fall ist, erhöhen sich häufig die Anforderungen an die Leistung oder die Flexibilität, verbunden mit Einkommensausfällen für die Beschäftigten.
Was sind die wichtigsten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt durch den gesetzlichen Mindestlohn?
Lars P. Feld: Erstens hat der Mindestlohn bisher nur zu geringfügigen Einbußen bei der Beschäftigung geführt. Zum Teil lassen sich strukturelle Veränderungen erkennen, etwa die Umwandlung geringfügiger Beschäftigung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das hat die Arbeitsplatzverluste gut kompensiert. Zweitens erreicht man damit eine größere soziale Absicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer . Insbesondere die Alterssicherung hat sich vermutlich verbessert. Und, drittens, haben wir mit dem Mindestlohn nicht wirklich das sozialpolitische Instrument, das sich so mancher in der Politik erhofft hatte: Die Effekte auf die Einkommensverteilung sind gering. Das hat nicht zuletzt mit Ausweichreaktionen zu tun. Verteilungsprobleme lassen sich eher mit dem Steuer-Transfer-System adressieren.
Prof. Dr. Dr. h.c. Lars P. Feld ist Professor für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik an der Universität Freiburg und Direktor des dortigen Walter Eucken Instituts. Von 2011 bis Ende Februar 2021 war er Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, zu dessen Vorsitzendem er im März 2020 gewählt wurde. Zudem ist er wissenschaftliches Mitglied der Mindestlohnkommission.
Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns wollte die Bundesregierung Beschäftigte unter anderem vor unangemessen niedrigen Löhnen schützen und Wettbewerb auf Kosten solcher Löhne verhindern. Hat das geklappt?
Feld: Ich habe den Eindruck, dass der Mindestlohn seiner Korrekturfunktion für unzureichenden Wettbewerb in regionalen Arbeitsmärkten nachkommt. Unternehmen können auf regionalen Märkten gerade für weniger Qualifizierte ungünstige Arbeits- und Verdienstbedingungen setzen, wenn sie eine große Bedeutung in der Region haben. Das Problem lässt sich nicht mit der Wettbewerbspolitik lösen – mit dem gesetzlichen Mindestlohn dagegen schon. Insgesamt hat die Bundesregierung bei ihren Zielsetzungen Glück gehabt: Wir waren in einer guten konjunkturellen Phase und hatten dadurch auch Produktivitätssteigerungen im unteren Lohnbereich. Nach der Corona-Krise werden wir sehen müssen, ob es bei der Produktivität im Mindestlohnsektor Probleme gibt. Es muss sichergestellt bleiben, dass keine Arbeitslosigkeit entsteht. Ich bin aber optimistisch, dass ein starker Aufschwung einsetzt, sobald die Bremsen gelöst werden. Das kann durchaus bedeuten, dass wir nur geringe Spuren von der Corona-Krise am Arbeitsmarkt sehen und weitere behutsame Erhöhungen des Mindestlohns über das jetzt Vereinbarte hinaus keine ungünstigen Wirkungen haben werden.
Was sind die künftigen Herausforderungen beim gesetzlichen Mindestlohn?
Feld: Das ist zum einen die Forderung, den Mindestlohn deutlich zu erhöhen, zum Beispiel auf 12 Euro. Wenn wir das von heute auf morgen tun, entsteht ein Beschäftigungsproblem. Mit den geplanten Mindestlohnerhöhungen in den nächsten Halbjahren bewegen wir uns allerdings schon in Richtung von 12 Euro. Wenn der Mindestlohn Ende 2022 für die nächsten zwei Jahre weiter ansteigt und das auf einen gut verfassten Arbeitsmarkt trifft, erwarte ich keine Probleme. Insgesamt sind die Rahmenbedingungen für den Mindestlohn in Deutschland mit den Entscheidungen der Mindestlohnkommission, die an der Tarifautonomie orientiert sind, gut getroffen. Eine rein politische Festsetzung des Mindestlohns halte ich für problematischer, da sie sich nicht gezielt an den Bedingungen in den Unternehmen orientiert. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände kennen diese besser. Das wird eine Herausforderung, gerade weil die EU-Kommission regulatorische Vorgaben für die Mitgliedstaaten diskutiert, um in Europa insgesamt zu einer Lohnuntergrenze zu kommen.
Audiostatement von Lars P. Feld zur Forderung nach einem europaweiten Mindestlohn in Höhe von 60 Prozent des Medianeinkommens.
Eine andere Frage sind die Auswirkungen des technischen Fortschritts, insbesondere der Digitalisierung. Ich denke, dass der Arbeitsmarkt damit gut fahren wird. Schon mit der bisherigen Digitalisierung haben wir per Saldo ein Beschäftigungsplus erzielt – wenn auch mit regionalen Unterschieden. Aber gerade bei den Geringqualifizierten werden wir sehen müssen, wie wir sie durch Qualifizierung mitnehmen. Weil die Digitalisierung insbesondere Routinetätigkeiten ersetzt, wird sie auch den mittleren Einkommensbereich treffen, in dem solche Tätigkeiten durchaus häufig sind. Während die Lohnsteigerungen für diejenigen mit hohen Qualifikationen kräftig sein werden, sind die Effekte aus Demografie und Digitalisierung im mittleren und unteren Qualifikationsbereich schwieriger vorherzusagen. Der Ausweg ist dagegen relativ klar: die Qualifikationen so stärken, dass sie nicht zu tätigkeitsspezifisch sind, sondern in Bereiche mit weniger Routinetätigkeiten führen.