In rund 100 Unternehmen sollen interessierte Beschäftigte zu Weiterbildungsmentorinnen und -mentoren ausgebildet werden, um Kolleginnen und Kollegen bei ihrer beruflichen Weiterentwicklung zu begleiten. Mit diesem Projekt möchte die IG Metall Bildungsangebote und Beschäftigte besser zusammenbringen. Hans Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, erklärt, wie die individuelle Begleitung Ängste nehmen und passgenaue Qualifizierung ermöglichen soll.
Herr Urban, Weiterbildungsmentorinnen und -mentoren sollen Beschäftigten über ihre Chancen auf Weiterbildung aufklären. Weshalb ist das nötig?
Hans Jürgen Urban: Weiterbildung ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Es gibt im Grunde drei strukturelle Probleme: Erstens sind Phasen ökonomischer Krisen keine guten Zeiten für das Thema Weiterbildung. Sowohl bei den Unternehmen als auch bei den Beschäftigten dominieren oft andere Themen – etwa die Angst vor Arbeitsplatzverlusten oder kurzfristige Rentabilitätsüberlegungen. Das mag verständlich sein, ist aber kurzsichtig. Zweitens liegt in vielen Unternehmen keine strategische Zukunftsplanung vor. Deshalb fällt es ihnen auch schwer, die künftig benötigten Qualifikationen zu definieren. Und drittens haben oft gerade die Personen, auf die der größte Weiterbildungsbedarf zukommt, keine Weiterbildungsroutine. Viele eignen sich zwar im Arbeitsalltag zusätzliche Qualifikationen an, aber oft nicht in offiziell zertifizierten Weiterbildungsformaten. Und manche Beschäftigte haben Vorbehalte, weil sie Weiterbildung mit der Schulbank assoziieren oder nicht wissen, was sie erwartet. Die Weiterbildungsmentoren sollen den langfristigen Nutzen von Weiterbildung verdeutlichen und gute Angebote transparent machen, um den genannten Problemen entgegenzuwirken; denn das Angebot an Finanzierungswegen, Bildungsträgern und Inhalten ist doch reichlich unübersichtlich. Sie werden aber auch auf Beschäftigte zugehen, die wenig Übung mit Weiterbildungen haben, sie nach ihren Vorbehalten fragen und zielgenaue Angebote unterbreiten. Und schließlich sollen sie die Arbeitgeber auf Weiterbildungslücken aufmerksam machen und helfen, Weiterbildung zum betriebspolitischen Thema zu machen.
Audiostatement Hans Jürgen Urban zur Transformation am Arbeitsmarkt und der Rolle der Weiterbildungsmentorinnen und -mentoren
Dr. Hans Jürgen Urban ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Als Sozialwissenschaftler kümmert sich um die Themen Sozialpolitik, Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik. Er ist u. a. Mitglied des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit.
Gibt es Berufsfelder oder Branchen, auf die sich das Mentoring konzentriert?
Urban: Die Weiterbildungsmentorinnen und -mentoren sind vor allem in den Bereichen gefordert, wo wir wissen, dass sich Tätigkeiten und Arbeitsplätze grundlegend verändern oder gar verschwinden werden. Das dürfte etwa rund um die Fertigung von „Verbrenner-Antrieben“ in der Automobilindustrie der Fall sein. Hier ist es besonders dringend, die Qualifikationen zu benennen und zu vermitteln, die an neu entstehenden Arbeitsplätzen gefordert sind. So kann die Mentorenarbeit helfen, die soziale, technologische und ökologische Transformation zu bewältigen.
Wie schaffen es die Mentorinnen und Mentoren, Beschäftigten die Vorbehalte gegen Weiterbildung zu nehmen?
Urban: Die konkreten Veränderungen in den Unternehmen sollten die Ansatzpunkte sein. Aus den Veränderungen im Arbeits- und Produktionsprozess lassen sich die Weiterbildungsbedarfe ableiten, mit denen die Mentorinnen und Mentoren gezielt auf die Beschäftigten zugehen können. Wenn der Bedarf an neuen Qualifikationen deutlich wird und darauf zugeschnittene Weiterbildungsangebote zur Verfügung stehen, steigt sicher auch die Teilnahmebereitschaft. Aber nicht nur die Inhalte, auch die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Die Teilnahme- und Finanzierungsbedingungen müssen fair ausfallen und die Bemühungen der Betroffenen müssen mit einer lukrativen und gesicherten Perspektive verbunden sein. Kolleginnen und Kollegen, die ihre Weiterbildung erfolgreich abgeschlossen haben, müssen die erlernten Kompetenzen auch im Arbeitsalltag einbringen können. Das heißt: Weiterbildung muss mit entsprechenden Gratifikationen und beruflichen Perspektiven einhergehen.
Beobachten Sie, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Begleitung ihre berufliche Weiterentwicklung stärker selbst vorantreiben?
Urban: Die Beschäftigten haben großes Interesse an guter Arbeit. Weiterbildung kann mehr Beschäftigungssicherheit, Einkommen und interessantere Arbeit bedeuten. Wenn das in Aussicht steht, entwickeln die Beschäftigten durchaus großes Eigeninteresse an entsprechenden Maßnahmen. Wichtig ist aber, dass die Unternehmen die Weiterbildungsgebote in die Konzepte der Arbeitsgestaltung einbetten. Und vor allem: dass Beschäftigte und Betriebsräte beteiligt sind. Die Betriebsräte sollten ein Recht haben, hier umfassend aktiv werden zu können. Eine systematische Weiterbildungspraxis kann ihr Potenzial nur als Element einer innovativen und mitbestimmten Arbeitspolitik entfalten. Als „Stand-alone-Maßnahme“ bleibt Weiterbildung hinter ihren Möglichkeiten zurück.