Sie haben in Ihren Fallstudien fünf unterschiedliche Transformationsprozesse beschrieben. Welche Fähigkeiten haben sich aus Ihrer Sicht als förderlich erwiesen?
Grundsätzlich standen alle Unternehmen vor der Herausforderung, den Produktionsbetrieb in der Gegenwart aufrechtzuerhalten, sich aber zugleich auf die Zukunft vorzubereiten. Dabei zeigte sich, dass diese Kraftanstrengungen mit greifbaren Chancen einhergehen und Fähigkeiten entstehen lassen, die insbesondere auch für die betrachteten mittelständischen Betriebe langfristig die eigene Zukunftsfähigkeit sichern.
„Alle Unternehmen standen vor der Herausforderung, den Produktionsbetrieb in der Gegenwart aufrechtzuerhalten, sich aber zugleich auf die Zukunft vorzubereiten.“
In ihrer Studie im Rahmen der Begleitforschung zur Arbeitsweltberichterstattung haben die Wissenschaftler des Fraunhofer ISI nach Strategien, Prozessen und Routinen gesucht, die produzierende Unternehmen besser in die Lage versetzen, betriebliche Transformationsprozesse zu gestalten und zugleich die Auswirkungen der Corona-Krise zu bewältigen. Hierfür sprachen sie einmal im Winter 2020 und ein weiteres Mal im Frühjahr 2021 mit der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite von fünf verschiedenen Betrieben. Lesen Sie hier alle Ergebnisse der Studie.
Hierzu zählte beispielsweise die Fähigkeit, den Innovationsprozess stärker zu internalisieren und eigene Forschungs- und Entwicklungskapazitäten zu etablieren oder bereits heute das technische Basiswissen für Zukunftstechnologien wie Wasserstoffsensoren aufzubauen, die dem Unternehmen erst nach der Transformation hin zu einer wasserstoffbasierten Energiewirtschaft deutliche Umsatzsteigerungen einbringen dürften.
Herauszuheben ist auch die Fähigkeit eines mittelständischen Traditionsunternehmens des Maschinenbaus durch ein organisiertes Zusammenspiel von Top-down- und Bottom-up-Maßnahmen eine digitalisierungsförderliche Unternehmenskultur zu stärken. Zu nennen ist außerdem die Fähigkeit eines Medizin-Tech-Unternehmens, seine traditionelle Kultur als Innovator in der Branche auch als Mittelständler fortleben zu lassen und zugleich das eigene schnelle Wachstum hin zu einem international agierenden Produktanbieter zu organisieren.
Für das einzige Großunternehmen im „Sample“ muss die Fähigkeit herausgestellt werden, jahrzehntelang bewährte Technologien und Kompetenzen vorhalten zu können und gleichzeitig in der Lage zu sein, innovative und digitale Bahnbetriebssysteme zu entwickeln und agilere Formen des Arbeitens und Führens zu etablieren, um die neuen Erwartungen von Kunden und Belegschaft zu erfüllen.
Dr. Thomas Jackwerth-Rice arbeitet seit 2018 als Projektleiter am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI im Competence Center „Politik und Gesellschaft“, wo er sich schwerpunktmäßig mit dem Beitrag von Organisationen zur Gestaltung von Transformationsprozessen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigt. Von 2012 bis 2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Oldenburg, wo er im Rahmen eines von der Volkswagenstiftung geförderten Verbundprojekts zu kollaborativen Innovationen promovierte.
Welche Transformationsprozesse wurden durch die Pandemie gebremst?
Bei lediglich zwei mittelständischen Betrieben konnten wir eine Verlangsamung oder gar vollständige Ausbremsung der Transformationsprozesse beobachten. Vollständig ausgebremst wurde die radikale Transformation der Innovationsprozesse beim kleinsten Unternehmen, das wir befragt haben. Hierbei handelte es sich um einen Spezialisten für Oberflächen-Veredelungen. Die Corona-Krise wirkte in diesem Fall sogar geschäftsbedrohend – auch weil Materiallieferungen aus dem Ausland bis zuletzt stark beeinträchtigt waren und sich die Preise für Zwischenprodukte fast verdoppelten. Partnerschaften mit nationalen und internationalen Pulverlackherstellern, die vor der Krise angebahnt wurden, fielen auf ein Minimum zurück. Das Forschungs- und Entwicklungspersonal wurde in Kurzarbeit geschickt, sodass für alle „exotischen“ Innovationsprojekte, die nicht direkt gewinnbringend arbeiteten, Innovationsprojekte gestoppt wurden. Auch wurde die bauliche Erweiterung des Forschungslabors verschoben, um zusätzliche Kosten einzusparen. Andere Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, die oft mit ausländischen Partnern gemacht wurden, musste nun auf Online-Kommunikationskanäle ausweichen, was zum Beispiel gemeinsame Experimente erheblich beeinträchtigte.
Nur leicht gebremst wurde der Transformationsprozess bei dem Fall eines Traditionsunternehmens für hochwertige mechanische Komponenten. Im Gegensatz zum ersten Fall kam dieser Betrieb wirtschaftlich gut durch die Krise. Zwar brachen auch hier die Bestellungen vorrübergehend ein, insbesondere weil große Kunden der Automobilindustrie zeitweilig ihre Betriebe geschlossen haben, und auch Lieferketten waren durchgängig beeinträchtigt. Die Umsatzeinbußen fielen aber aufgrund von Einsparmaßnahmen aus dem Vorjahr eher moderat aus. Die avisierte digitale Transformation der eigenen Prozesse und Produkte, die auch sehr stark von Leuchtturmprojekten mit Kunden getragen werden sollte, wurde durch die Krise allerdings nur leicht gebremst. Aufgrund von Kurzarbeit auch bei Entwicklungspartnern fehlten hier teilweise die nötigen Kapazitäten, um bereits geplante Digitalisierungsprojekte in der gewünschten Geschwindigkeit zu realisieren.
Dr. Djerdj Horvat ist Projektleiter am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI, wo er sich schwerpunktmäßig mit den diversen Themen der industriellen Innovations- und Technologieforschung beschäftigt. Er studierte Diplom-Wirtschaftswissenschaften mit dem Schwerpunkt „International Entrepreneurship“. Weiterhin studierte er an der Universität Potsdam in dem Masterprogramm „Master of Economics and Business“. Er hat zum Thema „Absorptive Capacity in auswärtigen Niederlassungen multinationaler Unternehmen“ an der Freien Universität Berlin am Lehrstuhl für Innovationsmanagement promoviert.
Welche Fähigkeiten mussten neu aufgebaut werden, um negative Folgen der Corona-Krise abzuwenden oder die Chancen zu nutzen, die sich aus der Pandemie ergeben haben?
Für alle Unternehmen stellte das betriebliche Krisenmanagement eine neue Fähigkeit dar, die erst erlernt werden musste. Bis auf den Fall des Großbetriebs mit Konzernstandort, der hierfür auf etablierte Strukturen zurückgreifen konnte. Das betriebliche Krisenmanagement wurde besonders umfassend für den Spezialisten für mechanische Komponenten geschildert. Dieser etablierte einen Krisenstab aus Geschäftsführung, Betriebsrat und Leiter für Personal und Finanzen, reorganisierte seine Produktionsarbeit und entwickelte Personalstrategien sowie eigene Vorschau- und Kontrollinstrumente, um die Auswirkungen der Krise auf das eigene Geschäft besser abzuschätzen, das Infektionsgeschehen im Betrieb kontinuierlich zu überwachen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, zum Beispiel zu den Themen Homeoffice, Arbeitszeiten, Kurzarbeit, Kommunikation und Information.
Zudem konnten wir beobachten, dass die Krisenbewältigung den Unternehmen neue Chancen eröffnete, weil zum Beispiel die Einführung digitaler Dienstleistungen einen zusätzlichen Schub erfuhr. Teilweise wurden sogar Kernprozesse digitalisiert, die auch nach der Krise fortbestehen sollten, weil sie die Arbeitseffizienz steigern. So kann das Medizin-Tech-Unternehmen seinen Kundinnen und Kunden zukünftig die Dienstleistung anbieten, den klinischen Einsatz neuer Produkte an Patientinnen und Patienten auch digital begleiten zu können, sodass für die hierfür zuständigen Ärztinnen und Ärzte der Reiseaufwand entfällt und sie wieder schneller ihren Tätigkeiten in der Klinik nachgehen können.
„Für alle Unternehmen stellte das betriebliche Krisenmanagement eine neue Fähigkeit dar, die erst erlernt werden musste.“
Unsere Ergebnisse zeigen auch, dass die Krise die Arbeitgeber für eine neue Kommunikationskultur in den Betrieben sensibilisiert haben könnte, um tiefgreifende Veränderungen im Unternehmen besser zu vermitteln. Zum Beispiel könnte es am Konzernstandort künftig zur Praxis werden, die Belegschaft direkter – also ohne Umwege über die Hierarchieebenen – über geplante Veränderungen zu informieren und themen- und zielgruppenspezifische Informationsveranstaltungen zu organisieren. Diese Mittel haben sich in der Krisenbewältigung bewährt, weil Wissensbedürfnisse gezielter und mit weniger Informationsverlusten gestillt wurden.