„Quereinsteiger bringen Spezialkenntnisse und Stabilität ein”
Quereinstiege sind im Fachkräftemangel für viele Berufe spannend. Ein Quereinsteiger und sein Arbeitgeber berichten über Chancen und Erfahrungen.
Berufliche Mobilität ist ein wichtiger Erfolgsfaktor im Wandel der Arbeitswelt. Viel Erfahrung mit Quereinstiegen hat zum Beispiel die Kindertagesbetreuung. Der Bedarf an Erzieherinnen und Erziehern ist angesichts des wachsenden Wunsches nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf einerseits und eines Bewerbermangels andererseits hoch. Kita-Träger wie Konzept-e aus Stuttgart sind deshalb überzeugt, dass es ohne Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger nicht mehr geht. Wir haben mit Konzept-e-Geschäftsführer Clemens Matthias Weegmann und dem Quereinsteiger Orkan Tan über die Erfahrungen, Chancen und Herausforderungen beim Thema Quereinstieg
aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebersicht gesprochen.
Herr Weegmann, weshalb haben Sie sich für Quereinsteiger in Ihren Kitas entschieden?
Wir engagieren uns schon sehr lange für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger. Ein Grund dafür liegt in unserem offenen Konzept, bei dem die Kinder viele Entscheidungsmöglichkeiten haben. Zum Beispiel können sie wählen, ob sie ins Atelier gehen und dort malen, ins Bauzimmer, in die Werkstatt oder ins Labor. Wir konnten schwer Erzieherinnen oder Erzieher finden, die sich für diese einzelnen Themen so richtig begeistern können und vom Werkeln, Forschen oder Kreieren etwas verstehen. Vor 15 Jahren haben wir dann einen Schreiner eingestellt, der einen guten Zugang zu Kindern hatte. Und so haben wir mit den Jahren viele spannende Leute gefunden: eine promovierte Chemikerin, Schauspieler, Musiker, Künstler wie Orkan Tan – alles Menschen mit Vorerfahrungen, die so auch im Bildungsplan stehen.
Wie läuft die Integration in den neuen Berufsalltag?
Hier sind Fortbildungen für die verschiedenen pädagogischen Aufgaben nötig: Elterngespräche führen, die Interessen der Kinder dokumentieren, Anregungen für ihre Weiterentwicklung geben und andere Themen. Dafür haben wir ein Programm an unserer Fachschule mit einem Umfang aufgelegt, das der Hälfte der erzieherischen Ausbildung entspricht, meist verteilt über drei Jahre. Dazu kommen praktische Übungen, um die Theorie auch umsetzen zu können.
Was sind die Herausforderungen und Chancen des Quereinstiegs?
Das pädagogische Know how braucht seine Zeit, gerade mit den wenigen Kindern, die pädagogisch eine intensivere Betreuung benötigen. Neben dem Wissen, welche Bedürfnisse hinter bestimmten Verhaltensweisen liegen und wie man sie erfragt, braucht es einfach Erfahrung, um mit ihnen umgehen zu können. In der Summe sind Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger für uns aber ein Gewinn. Das sind alles Menschen, die mitten im Leben stehen und den Kindern neben ihren Spezialkenntnissen aus vorherigen Berufen Stabilität vermitteln. Interessant ist auch, dass die meisten männlichen Erzieher als Quereinsteiger zu uns gekommen sind. Meist berichten sie von Vorbehalten in ihrem Umfeld, die sie zunächst von der Erzieherausbildung abgehalten haben. Für die Kinder ist es aber wichtig, dass sie von Frauen und Männern betreut werden.
Welche Beschäftigungsperspektiven gibt es bei Ihnen nach dem Quereinstieg?
Wir haben seit 2011 eigene Fachschulen für Erzieher gegründet, weil uns klar war, dass der Boom für die Kinderbetreuung da ist. Lange wurde darauf nicht reagiert. Erst seit 2012 gibt es hier in Baden-Württemberg beispielsweise die praxisintegrierte Erzieherausbildung, die vom ersten Tag an bezahlt ist und nur noch drei Jahre dauert. Damit ist das Interesse an der Ausbildung zwar gewachsen, aber nach wie vor haben wir deutschlandweit einen hohen Bedarf an Personal, den wir ohne Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger nicht decken können. Das ist bei allen meinen Verbandskolleginnen und -kollegen anerkannt und sollte bundesweit entsprechend gefördert werden, etwa durch einen bundesweiten Rahmen für einen Direkteinstieg.
Herr Tan, weshalb haben Sie sich für den Quereinstieg in die Kita entschieden?
Ich habe eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann gemacht, dann erstmal in der Möbel- und anschließend in vielen Bereichen der Modebranche gearbeitet. Ich habe bald gemerkt, dass mir der Sinn dahinter gefehlt hat. Zusätzlich habe ich eine Nichte bekommen und gemerkt, dass ich sehr gerne für die Kleine Verantwortung mittrage und mir die Zeit mit Kindern sehr viel Spaß macht. Nebenher habe ich mir künstlerisch selbst viel angeeignet und Ausstellungen durchgeführt. Das beides hat mich dahin gebracht, Kunst mit Kindern machen zu wollen. Jetzt bin ich für zweieinhalb Jahre in einem Quereinstiegsprogramm mit Schwerpunkt Kunst, um mit einem pädagogischen Zertifikat in baden-württembergischen Kitas eingesetzt werden zu können.
Wie läuft die Integration in Ihren neuen Berufsalltag?
Ich arbeite nicht nur künstlerisch mit den Kindern, sondern begleite sie von morgens bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie abgeholt werden. Zudem bin ich fürs Atelier zuständig, in dem ich oft mit den Kindern zu unterschiedlichen Impulsen arbeite – von der Selbsterkennung und -darstellung bis zur Ausstellung von Selbstporträts oder der Frage am Mittagstisch, wie viele Tiere es in der Welt eigentlich gibt, um sie anschließend zu malen. Dabei versuche ich immer, unterschiedliche Materialien zu verwenden. Neben der Praxis gibt es die Theoriephasen an den Fachschulen.
Was sind die Herausforderungen und Chancen des Quereinstiegs?
Die Herausforderung war für mich das Zeitmanagement, da wir in Praxis und Theorie möglichst viel mitnehmen müssen und für das Programm mit den Kindern selbst verantwortlich sind. Die Organisation ist deshalb ein sehr großer Aspekt beim Quereinstieg. Dafür bekomme ich aber sehr viel Unterstützung im Kinderhaus, wenn ich zum Beispiel Schulungen, Seminare, Prüfungen oder Qualitätswerkstätten an der Fachschule habe. Grundsätzlich gilt die Offenheit, mit der wir die Bedürfnisse und Interessen der Kinder aufgreifen, auch für uns als Beschäftigte. Das trifft auch in den Theoriephasen zu, in denen ich an den Fachschulen ebenfalls immer Ansprechpartner für all meine Fragen finde.
Mein Vorteil ist, dass ich Diversity
in die Kita einbringe, mit meiner Kreativität, aber auch schon mit meinem Aussehen – volltätowiert und mit Vollbart. Und natürlich spielt auch das Geschlecht eine Rolle, weil es einfach immer noch nicht viele männliche Erzieher gibt. Diese andere Perspektive kommt bei den Kindern gut an, nicht nur bei den Jungs, sondern auch bei den Mädchen.
Welche Beschäftigungsperspektiven haben Sie nach dem Quereinstieg?
Nach dem Quereinsteigerprogramm bin ich noch zwei Jahre fest in meiner jetzigen Kita, die mich für die Dauer des Programms gefördert hat. So habe ich viereinhalb Jahre einen sicheren Job und kann die Förderung durch vollwertige Arbeit zurückzahlen. Auch für die Zeit danach bin ich zuversichtlich, dass ich in dem Kinderhaus bei meinem jetzigen Arbeitgeber Konzept-e bleiben werde. Ich werde hier wirklich sehr gut unterstützt. Das möchte ich nach meiner Zertifizierung gerne zurückgeben.
Clemens Matthias Weegmann ist einer der Geschäftsführer bei Konzept-e, einem Träger von 42 Kitas v. a. in Baden-Württemberg, vier Erzieherfachschulen und je zwei Grund- und Gemeinschaftsschulen. Der Diplompädagoge ist Mitglied im Vorstand des deutschen und des baden-württembergischen Kita-Verbands und hat sechs Jahre lang eine Kita geleitet, bevor er in die Fachberatung gewechselt ist.
Orkan Tan hat eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann gemacht und sich nach einiger Berufserfahrung entschieden, seine Begeisterung für Kunst und das Arbeiten mit Kindern zu kombinieren. Heute ist er Teilnehmer des Quereinstiegsprogramms beim baden-württembergischen Kita-Träger Konzept-e als Spezialist mit Schwerpunkt Kunst. Als Künstler hat er zudem mehr als 30 Ausstellungen im Raum Stuttgart organisiert.