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Digitalisierung soll Sozialarbeit bei Entscheidungsfindung helfen

Digitalisierung soll im Sozialen Dienst bei Entscheidungen helfen, etwa mit Prognosetools zur Gefährdung von Kindern. Doch ihr Einsatz ist umstritten.

  • Selbstlernende IT-Systeme sollen im Sozialen Dienst bei schwierigen Entscheidungen helfen – etwa im Kinderschutz.
  • Dabei fahnden sie in großen Datenmengen nach Mustern zur Prognose von Risiken.
  • Wissenschaft und Praxis diskutieren Nutzen der Digitalisierung als Entscheidungshilfe in der Sozialen Arbeit kontrovers.

Mit großen Datenmengen die Gefährdung von Kindern einschätzen: Selbstlernende Technologien sollen das über ein automatisiertes Screening leisten. Dabei fahnden sie in den Daten sozialer Dienste, der sozialstaatlichen Sicherungssysteme, aber auch weiterer Quellen wie Social Media nach Mustern, die statistisch auf die Gefahr von Misshandlung oder Vernachlässigung hinweisen. Solche Verfahren werden in Modellprojekten in unterschiedlichen Ländern erprobt (Gillingham 2017).

Aktuell diskutieren Fachleute für Soziale Arbeit und verwandter Disziplinen, wie sinnvoll der Einsatz solcher Prognosetools in der Sozialen Arbeit und für die sozialen Dienste allgemein ist. Fachkräfte müssen hier oft schwierige Entscheidungen treffen. Umso wichtiger ist es für sie beispielsweise im Kinderschutz, Risiken für Misshandlung oder Vernachlässigung richtig einzuschätzen.

Statistisch unterstützte Entscheidungen sind in den Sozialen Diensten dabei nichts Neues. Zum Beispiel sind für die Abfrage von Risikofaktoren schon länger standardisierte Bewertungsbögen im Einsatz. Bereits zu diesem Instrument gibt es kontroverse Diskussionen in der Sozialen Arbeit. So auch zu den umfassenderen, automatisierten Prognosetools wie das Predictive Risk Modelling (PRM) oder Decision Support Systems (DSS). Hierzu gibt es in der Fachdiskussion zwei Positionen:

  • Mechanische und maschinelle Prognoseverfahren schränken den Handlungs- und Entscheidungsspielraum von Fachkräften weiter ein und führen damit zu einer Entwertung fachlicher Arbeit und sozialer personenbezogener Dienstleistungen. Außerdem sagen diese Verfahren nichts über die Strukturen hinter dem Problem aus und führen deshalb nicht zu Lösungen. Sie weisen lediglich Risiken für bestimmte Bevölkerungsgruppen aus (zusammenfassend: Bastian 2017).
  • Prognosetools in sozialen Diensten sollten die fachliche Arbeit nicht lenken. Vielmehr erweitern algorithmische Analysen die Wissensbasis in Entscheidungssituationen und können so zur Qualität der Entscheidungsfindung beitragen. Sie helfen, die Risiken künftiger Ereignisse (zum Beispiel anhaltende Arbeitslosigkeit oder eine Gefährdung des Kindeswohls) abzuschätzen. Solche Techniken können ihr Potenzial aber nur zusammen mit der Arbeit von Fachkräften entfalten. Voraussetzung ist das Verständnis, wie Technik und Handeln von Fachkräften in der Praxis ineinandergreifen (Schrödter et al., 2020; Bastian 2017; Schneider/Seelmeyer 2019).

Stand heute stehen diese beiden, durchaus zu vereinbarenden Positionen nebeneinander. Denn noch gibt es keine ausreichende Empirie dazu, wie die neue technische Infrastruktur die fachliche Arbeit bei konkreten Entscheidungen unterstützen kann.

Praxissicht Digitalisierung im Sozialen Dienst

So sieht die Praxis die Digitalisierung im Sozialen Dienst:

Perspektive der Führungs- und IT-Kräfte: Laut IT-Report für die Sozialwirtschaft  2021 (Kreidenweis/Wolff, 2021, S. 15) klaffen die Ziele des IT-Einsatzes und der Grad der Zielerreichung aus Sicht der befragten Führungskräfte und IT-Verantwortlichen stark auseinander.

So wird beispielsweise die Erwartung, dank IT könnten Arbeitsabläufe effizienter gestaltet und standardisiert werden, nach Einschätzung der Befragten nicht erfüllt. Ebenso wird das Ziel, die fachliche Qualität der Arbeit durch IT-Einsatz zu steigern, nicht im gewünschten Ausmaß erfüllt.

Perspektive der Fachkräfte: Untersuchungen und Fallstudien stellen außerdem seit den 90er Jahren fest, dass Fachkräfte in Sozialen Diensten digitale Dokumentations- und Planungssysteme nicht als hilfreich erleben. Befragungen von Sozialarbeiter*innen und die Beobachtungen von Arbeitssituationen zum Beispiel in Jugendämtern ergeben folgende Einschätzungen:

  • Fachsoftware unterstützt in der Regel keine ganzheitliche Sicht auf den Fall, Informationen stehen unverbunden nebeneinander. Das kann zu einer vorschnellen, auch falschen Kategorisierung von Hilfesuchenden und zu vorschnellen Entscheidungen zur Leistungserbringung führen (Huuskonen 2014; Lie 1997; White 1997).
  • Fachkräfte empfinden die starren Kategorisierungen als zu eng, mitunter auch als diskriminierend oder falsch (Petersen et al. 2021).
  • Die Dokumentation von Klient*innen-bezogenen Daten mit der Fachsoftware ist für Fachkräfte nicht einfach. Sie müssen dabei viele Entscheidungen treffen („Welcher Kategorie soll ich die betreffende Person zuordnen?“) und mögliche Folgen für sich selbst oder die jeweiligen Klient*innen berücksichtigen (Petersen et al. 2021).
  • Weitergehende Technologien, wie zum Beispiel Algorithmen-basierte Entscheidungsvorschläge, treffen bei den Fachkräften auf Skepsis, wenn es für sie nachteilig ist, sich gegen diese Vorschläge zu entscheiden (Hartmann 2022), (Sztandar-Sztandeska/Zielenska 2022).

Es gibt also viel Kritik an IT-Anwendungen in den Sozialen Diensten, auch abhängig von der Technik, die im konkreten Fall zur Anwendung kommt. Aber inzwischen werden bei der Systementwicklung professionelle und ethische Standards, sowie praktische Arbeitsroutinen stärker einbezogen, um sie passender und nützlicher zu machen, wie beispielsweise im Forschungscluster Maschinelle Entscheidungsunterstützung.

Literatur

Kreidenweis/Wolff (Hrsg.), 2021, IT-Report für die Sozialwirtschaft, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Arbeitsstelle für Sozialinformatik.

Schrödter et al., 2020, Risikodiagnostik und Big Data Analytics in der Sozialen Arbeit, in: Kutscher et al. (Hrsg.), Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung, S. 255-264.