Die Zahl der Betriebsräte in Deutschland ist über die Jahre hinweg zwar zurückgegangen. Kein Grund zur Sorge, dass die Mitbestimmung ausstirbt, sagt Dr. Oliver Stettes, Leiter des Forschungsbereichs Arbeitsmarkt und Arbeitswelt im Institut der deutschen Wirtschaft (IW).
Herr Dr. Stettes, in immer weniger Betrieben gibt es Betriebsräte. Warum?
Oliver Stettes: Ein Betriebsrat wird nur in Ausnahmefällen aufgelöst, weil die Beschäftigten keinen Sinn mehr in ihm sehen. Die Verbreitung von Betriebsräten sinkt, weil die dazugehörigen Betriebe vom Markt verschwinden. Das Entscheidende für den Rückgang in den letzten Jahren ist aber, dass wir relativ wenige Neugründungen beobachten. Die Wahl eines Betriebsrats erfordert die Initiative der Belegschaft und vielerorts sehen die Beschäftigten schlicht keine Notwendigkeit, weil anderweitig Mitsprachemöglichkeiten existieren, die sie als ausreichend empfinden.
„Wo Beschäftigte keinen Mehrwert sehen, wird auch kein Betriebsrat gegründet.“
Trotz des Rückgangs bei den Betriebsräten: Kann es zu Tendenzen einer Erneuerung der Mitbestimmung kommen?
Stettes: Betriebsräte bilden sich in der Regel dort, wo die Entwicklungen im betrieblichen Umfeld auf Seiten der Beschäftigten eine große Unsicherheit erzeugen und das Vertrauen in die Geschäftsführung beeinträchtigt ist. Und Unsicherheiten gibt es heute viele: Wie geht es zum Beispiel mit meinem Arbeitsplatz im Strukturwandel, in der Digitalisierung oder nach Corona weiter? Gelten die alten, häufig impliziten Absprachen noch? Wie kann ich meine Ideen einbringen, damit Irrwege vermieden werden? Betriebsräte können hier einen Stabilitätsanker bilden und verloren gegangenes Vertrauen wieder herstellen. Denn der Ausgleich zwischen den Interessen beider Seiten verläuft in geregelten Bahnen. Wo der Wunsch auf Seiten der Beschäftigten wächst, erstmals einen Betriebsrat zu gründen, ist dies absolut legitim. Das mag für eine Geschäftsführung erst einmal unangenehm sein. Sie sollte allerdings den Wunsch respektieren und die Chancen nutzen, einem Gesprächspartner gegenüber zu sitzen, der für die ganze Belegschaft spricht. Man sollte nie vergessen, dass ein Betriebsrat unangenehme betriebliche Notwendigkeiten auch den Beschäftigten vermitteln kann.
„Ein Betriebsrat kann im Transformationsprozess Überzeugungsarbeit leisten.“
Oliver Stettes ist Leiter des Forschungsbereichs Arbeitsmarkt und Arbeitswelt im IW. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören neben der Arbeitsmarkt- und Personalpolitik auch Fragen der Mitbestimmung
Die Anforderungen an die Betriebsratsmitglieder wachsen. Wie können sie dem gerecht werden?
Stettes: Das Betriebsverfassungsgesetz eröffnet den Betriebsräten die Möglichkeiten, sich schulen oder von Sachverständigen beraten zu lassen – und zwar auf Kosten der Arbeitsgeberin/des Arbeitgebers. Auch wenn es in der Praxis zuweilen Meinungsverschiedenheiten gibt, ob zum Beispiel eine bestimmte Weiterbildung notwendig ist: Eine Geschäftsführung sollte ein Interesse an einem qualifizierten Betriebsrat haben, damit der Austausch von Argumenten und das Ausbalancieren der Interessen am Ende zum Wohl des Betriebs zu produktiven Lösungen führen.
Im Übrigen werden viele Betriebsräte von Gewerkschaften unterstützt, weil tarifvertragliche Regelungen auf betrieblicher Ebene konkretisiert werden oder Öffnungsklauseln abweichende betriebliche Vereinbarungen erlauben. Nicht zuletzt gibt es vielerorts personelle Verflechtungen zwischen Betriebsrat und Gewerkschaft.
Wie sieht es in Betrieben und Branchen aus, in denen Betriebsräte und Gewerkschaften nicht oder kaum vertreten sind?
Stettes: Es ist legitim, dass eine Gewerkschaft hier eine Aufgabe für sich sieht, Strukturen gewerkschaftlicher Interessenvertretung aufzubauen – auch über den Umweg Betriebsrat. Am Ende entscheiden aber die Beschäftigten, ob sie eine kollektive Stimme benötigen und in welcher Form sie dann ausgeübt wird. Vielerorts gibt es alternative Vertretungsorgane oder den Beschäftigten reicht der direkte Weg, Einfluss zu nehmen, indem sie ihre Handlungsspielräume am Arbeitsplatz nutzen.