Die Zahl der Betriebsräte in Deutschland ist über die Jahre hinweg zwar zurückgegangen. Doch es gibt eine Reihe von Veränderungen, die für eine Erneuerung der Beschäftigtenvertretung in den Betrieben sprechen, sagt Prof. Thomas Haipeter vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) in Duisburg.
Herr Prof. Haipeter, in immer weniger Betrieben gibt es Betriebsräte. Hat sich diese Entwicklung in jüngster Zeit beschleunigt?
Thomas Haipeter: Der Rückgang verläuft eher stetig – allerdings nicht einheitlich, wenn man auf die Betriebsgrößen schaut: Während der Verbreitungsgrad von Betriebsräten in Großbetrieben nach wie vor hoch ist, scheint die betriebliche Mitbestimmung in den letzten Jahren vor allem in mittelgroßen Betrieben an Boden zu verlieren. Und in kleinen Betrieben waren und sind Betriebsräte vergleichsweise wenig verbreitet. Die Mitbestimmung entwickelt sich mehr und mehr zu einer großbetrieblichen Institution.
Warum gibt es weniger Betriebsräte?
Haipeter: Ein wichtiger Grund ist, dass aus Großunternehmen Betriebe abgespalten werden – in denen dann zumindest vorerst kein Betriebsrat mehr besteht. Zudem gewinnt der eher kleinbetriebliche Dienstleistungsbereich an Bedeutung, in dem Betriebsräte ohnehin weniger verbreitet sind. Solche strukturellen Gründe erklären allerdings nur einen Teil des Rückgangs. Ein deutlicher Zusammenhang besteht auch mit der ebenfalls rückläufigen Tarifbindung. Sie signalisiert eine Schwächung der Gewerkschaften in den Betrieben. Denn die Gewerkschaften sind eigentlich wichtige Impulsgeber, wenn es um den Aufbau von Betriebsräten geht. Und nicht zuletzt haben wir es mit Verhaltensänderungen und veränderten Einstellungen gegenüber der Mitbestimmung zu tun – und zwar bei Mitarbeitenden wie Arbeitgebern. Darauf weisen neuere Forschungsergebnisse hin. Demnach gehen sozialpartnerschaftliche Orientierungen zurück, und es gibt zunehmend Versuche von Arbeitgeberseite, die Wahl von Betriebsräten zu umgehen. Das gilt vor allem für kleine und mittlere Unternehmen.
„Beschäftigte vermehrt mit einzubeziehen, stärkt Betriebsräte und Gewerkschaften.“
Trotz des Rückgangs bei den Betriebsräten: Sie weisen auch auf Tendenzen einer Erneuerung der Mitbestimmung. Was genau meinen Sie?
Haipeter: Der betrieblichen Mitbestimmung kommt zugute, dass die Beschäftigten heute stärker daran beteiligt werden. Das hat mit dem Aufkommen von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen und den Möglichkeiten zu Abweichungen von Tarifverträgen durch sogenannte Öffnungsklauseln zu tun. Diese dienen etwa der Standort- und Beschäftigungssicherung. Ausgehandelt werden sie vor Ort durch Betriebsräte und Geschäftsleitungen, oft unterstützt durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. In der Metall- und Elektro-Industrie beispielsweise schuf der „Pforzheimer Tarifvertrag“ von 2004 solche neuen Möglichkeiten: Die IG Metall ging dazu über, Versammlungen für ihre Mitglieder abzuhalten und ließ sie darüber abstimmen, ob sie mit betrieblichen Verhandlungen oder mit einem erreichten Ergebnis einverstanden sind. Durch die Beteiligung der Mitglieder an der Entscheidungsfindung stieg nicht zuletzt deren Zustimmung zu Gewerkschaften und Betriebsräten. Und vielfach gelang es so, weitere Beschäftigte zum Gewerkschaftseintritt zu bewegen.
„Unterstützungs- und Qualifizierungsbedarf für Betriebsräte vor allem in kleinen und mittleren Betrieben.“
Thomas Haipeter ist Leiter der Forschungsabteilung Arbeitszeit und Arbeitsorganisation im Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) in Duisburg. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Industriearbeit im Wandel sowie der Arbeit und den Herausforderungen der Interessenvertretungen von Beschäftigten.
Die Anforderungen an die Betriebsratsmitglieder wachsen unter anderem durch solche betrieblichen Regelungen. Wie können sie dem gerecht werden?
Haipeter: Ob es um betriebliche Bündnisse geht oder um Themen wie Globalisierung, Digitalisierung und ökologische Transformation: Betriebsräte sind in vielerlei Hinsicht verstärkt gefordert, gerade in der Industrie. Unterstützungs- und Qualifizierungsbedarf besteht für sie allerdings weniger in Großunternehmen mit gut ausgestatteten Betriebsräten – sondern in kleinen und mittleren Betrieben. Hier hat beispielsweise das sogenannte Aktivierungsprojekt „Besser statt billiger“ der IG Metall angesetzt: Es sollte Betriebsräte befähigen, Alternativen zu Beschäftigungsabbau und Standortverlagerungen zu entwickeln. Gewerkschaftsnahe Beraterinnen und Berater sowie gewerkschaftliche Projektsekretärinnen und -sekretäre haben mit Betriebsräten entsprechende Konzepte erarbeitet und mit der Unternehmensseite verhandelt oder abgestimmt. Übrigens: Vielfach beruhten die alternativen Vorschläge auf Ideen der Beschäftigten, die als Expertinnen und Experten ihrer Arbeit mit einbezogen wurden – auch das ein Beispiel für Beschäftigtenbeteiligung.
Wie sieht es in Betrieben und Branchen aus, in denen Betriebsräte und Gewerkschaften nicht oder kaum vertreten sind?
Haipeter: Hier geht es für Gewerkschaften darum, neue Mitglieder zu gewinnen, Betriebsräte zu gründen, gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen. Letzteres gelingt etwa, wenn Vertrauensleute etabliert werden. Das sind Ansprechpartnerinnen und -partner einer Gewerkschaft im Betrieb, die sich ehrenamtlich für ihre Kolleginnen und Kollegen einsetzen. Eine Schlüsselrolle für solche Erschließungsprojekte spielt wiederum die Beteiligung der Mitarbeitenden – etwa wenn es um den Aufbau von Aktivenkreisen geht, aus denen heraus dann möglicherweise neue Betriebsräte entstehen. Auch wichtige Verbesserungs- oder Änderungsbedarfe in einem Betrieb lassen sich umso besser erkennen, je mehr die Beschäftigten mit einbezogen werden.