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Illustration Interview

Tarifverhandlungen in der Praxis   

Die einen orientieren sich am Verteilungsspielraum, die anderen am Belastungsspielraum: Im Interview erklären ein Gewerkschafts- und ein Unternehmensvertreter, wie Tarifverhandlungen in der Praxis ablaufen.

Jens Wohlfeil ist Geschäftsführer und Experte für Tarifpolitik beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall, dem Dachverband der Arbeitgeber der Metall- und Elektroindustrie. Norbert Reuter ist Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Im Interview geben sie Einblicke in Tarifverhandlungen.   

Herr Wohlfeil, Sie vertreten Arbeitgeberpositionen, Sie, Herr Reuter, die Gewerkschaftsseite. Fühlen Sie sich als Konkurrenten? 

Jens Wohlfeil:  Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind in Tarifverhandlungen keine Konkurrenten, sondern Sozialpartner. Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, uns im Interesse unserer Mitglieder auf vernünftige Tarifverträge und angemessene Lohnentwicklungen zu verständigen. 

Norbert Reuter: Ich stimme Herrn Wohlfeil zu. Trotzdem: Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften am Verhandlungstisch sitzen, prallen natürlich unterschiedliche Interessen aufeinander. Als Gewerkschaft möchten wir möglichst viel für die Beschäftigten rausholen. Die Arbeitgeber halten dagegen. 

Gesamtmetall - Jens Wohlfeil

Wenn es keine Tarifverhandlungen geben würde, wäre dies vor allem zum Nachteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer  . Denn wenn die Produktivität der Beschäftigten steigt, schlägt sich das automatisch in den Gewinnen der Unternehmen nieder. Die Gewerkschaften haben die Aufgabe, den Beschäftigten ihren Anteil am Wohlstandsgewinn zu sichern. Löhne steigen aber nicht von alleine, höhere Löhne müssen durchgesetzt werden. Hier liegt die Konfliktlinie in jeder Tarifverhandlung.  

Interessieren Sie sich für den Ablauf von Tarifverhandlungen in anderen Branchen? 

Wohlfeil: Ja. Wir beobachten das sehr intensiv. Das betrifft auch Branchen, mit denen wir direkt gar nichts zu tun haben. Tarifforderungen basieren auf einer Analyse der gesamtwirtschaftlichen Lage und der Inflationsentwicklung. Insofern ist es wertvoll, die Argumente und Forderungen der Arbeitgeber und Gewerkschaften auch in anderen Branchen zu kennen.       

Reuter: Tatsächlich schauen wir mit besonderem Interesse auf die Verhandlungen der Metallindustrie. Produktivitätsfortschritte sind in der Industrie in der Regel höher als bei Dienstleistungen. Wir orientieren uns als Dienstleistungsgewerkschaft auch an den Abschlüssen der Industrie. Das ist auch sinnvoll: Niemand möchte, dass die Lohnentwicklung in den unterschiedlichen Branchen auseinanderdriftet und so Abkopplungs-Effekte stattfinden.  

Wohlfeil: Wir sehen das genauso. Und wir argumentieren so auch in unseren Tarifverhandlungen: Die Metall- und Elektroindustrie ist eine Hochlohnbranche. Das heißt, wir sind bereits etwas abgekoppelt von der allgemeinen Tariflohnentwicklung. Aber gerade während der Corona-Pandemie ist es auch gesellschaftlich schwer vermittelbar, dass systemrelevante Berufe wie Verkäuferinnen oder Pflegekräfte deutlich weniger verdienen als eine Fachkraft  bei einem Autobauer am Band. Eine solche Entwicklung birgt gesamtgesellschaftlichen Sprengstoff – auch wenn das unsere Gewerkschaft nicht gerne hört.  

Wie kommen Gewerkschaften und Arbeitgeber zu ihren Forderungen und Angeboten? 

Reuter: Eine klassische Begründung für Lohnforderungen ist der sogenannte Verteilungsneutrale Spielraum, also die Summe aus der Höhe des Produktivitätsanstiegs plus der Inflationsrate. Um diesen Wert müssen die Löhne und Gehälter steigen. Nur dann bleibt die Verteilung des Volkseinkommens zwischen Arbeit und Kapital gleich. Erreichen wir diesen Wert nicht, gewinnt das Kapital.

Letztlich beschlossen werden Tarifforderungen aber von der jeweils zuständigen Tarifkommission, die ganz basisdemokratisch von den ver.di-Mitgliedern gewählt werden und aus ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen bestehen, die zum jeweiligen Unternehmen oder Tarifbereich gehören. Insofern sind die Tarifkommissionen immer ganz nah an den Problemen.

Wohlfeil: Unsere Angebote orientieren sich an dem Belastungsspielraum, der den kleinen, mittleren und großen Unternehmen in unserer Branche zugemutet werden kann. Die Produktions- und Umsatzentwicklung sowie die Auftragseingänge sind für uns wichtige volkswirtschaftliche Kenngrößen. Darüber hinaus nehmen wir beim Thema Lohnerhöhung auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit in den Blick. Die Unternehmen unserer Branchen könnten auch im Ausland produzieren. Das ist keine Drohung, sondern eine betriebswirtschaftliche Tatsache, die wir im Lohnfindungsprozess berücksichtigen müssen.  

Kay Herschelmann Photographie - Norbert Reuter

Jens Wohlfeil

Gesamtmetall

Jens Wohlfeil ist Geschäftsführer Tarif- und Sozialpolitik beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall, dem Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie. In seiner Funktion ist er zuständig für die Bereiche Tarifpolitik, Sozialpolitik, Arbeitswissenschaft und Recht.

Wie funktioniert der Ablauf von Tarifverhandlungen? 

Wohlfeil: In der Regel legen die Gewerkschaften ihre Forderung in der ersten Verhandlungsrunde vor und begründen diese. Manchmal bringen auch die Arbeitgeber eigene Forderungen ein. Wenn inhaltlich Themen zur Verhandlung stehen, gründen die Sozialpartner Arbeitsgruppen, um die Hintergründe zu verstehen.  

Im Rahmen des Lohnfindungsprozesses geben die Arbeitgeber ein Angebot ab, das von den Gewerkschaften im ersten Schritt zurückgewiesen wird. Auf der Suche nach dem Kompromiss wird die Schmerzgrenze der Sozialpartner dann Runde für Runde ausgelotet.

In der M+E-Industrie gibt es irgendwann die „lange Nacht“, in der sich die wichtigsten Vertreter beider Seiten treffen. Tarifabschlüsse kommen eigentlich immer nachts oder im frühen Morgengrauen zustande. Eine Tarifverhandlung ist zeitweise mit einem Pokerspiel vergleichbar und hat auch etwas mit Nervenstärke zu tun. Häufig gelingt auch eine Einigung ohne Warnstreiks. In der Metall- und Elektroindustrie ist das aber eher die Ausnahme. 

Norbert Reuter

ver.di

Dr. habil. Norbert Reuter ist Bereichsleiter der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung beim ver.di-Bundesvorstand. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik, Strukturwandel, demografischer Wandel, Verteilung, Wachstum und Entwicklung.

Welche Bedeutung haben Streiks für Gewerkschaften? 

Reuter: In einem Streik entziehen wir dem Arbeitgeber unsere Arbeitskraft und setzen ihn so unter Druck. Das Bundesarbeitsgericht hat vor vielen Jahren mal gesagt: Tarifverhandlungen ohne Streikrecht sind wie kollektives Betteln. Das sehe ich genauso.     

Welche Probleme können sich nach einer Tarifverhandlung ergeben?

Wohlfeil: Wir haben gelernt, dass unsere Tarifverträge nicht zu komplex werden dürfen. Uns haben Unternehmen zurückgemeldet, dass sie Juristen einstellen mussten, um die Verträge in die Praxis umzusetzen. Da kommt Frust bei den Unternehmen auf und das ist nicht gut. Im schlimmsten Fall verlassen sie den Flächentarif.  Die rückläufige Tarifbindung ist für Arbeitgeber und Gewerkschaften ein großes Problem.  

Reuter: Gerade bei einem Flächentarifvertrag ist es schwierig, allen gerecht zu werden. Innovativeren und wirtschaftlich starken Unternehmen fällt es leichter, höhere Löhne zu zahlen als anderen. Gleichzeitig möchten wir keine auseinanderklaffende Lohnentwicklung in einer Branche. Tarifverträge stellen sicher, dass der Wettbewerb nicht über Lohndumping ausgetragen wird und so eine Schmutzkonkurrenz entsteht, sondern sich die Unternehmen und Betriebe mit den besseren Ideen und Konzepten durchsetzen, nicht die mit den niedrigsten Löhnen.

Vor besonderen Herausforderungen stehen die Tarifkommissionen jetzt etwa bei den anstehenden Verhandlungen im Einzelhandel. Der Versandhandel hat sehr von der Corona-Krise profitiert. Klassische Geschäfte haben im Lockdown hingegen gelitten. Auch hier gilt es, einen gemeinsamen Tarifvertrag zu finden. Eine schwierige Aufgabe.  

Erwarten Sie, dass sich Tarifverhandlungen durch die Corona-Krise grundsätzlich verändern? 

Wohlfeil: Ich glaube, es muss in den Tarifabschlüssen mehr Möglichkeiten zur Differenzierung geben. Die Chemiebranche hat es 2020 vorgemacht. Dort wurde eine Sonderzahlung vereinbart, von der aber Unternehmen befreit waren, die im Vorjahr Verlust gemacht hatten. Arbeitgeber erwarten meiner Meinung nach zurecht, dass Gewerkschaften auf die heterogene wirtschaftliche Situation Rücksicht nehmen.  

Reuter: Wir werden aufgrund der Corona-Krise nicht weniger fordern, zumal Löhne auch Nachfrage sind und wir nur mit einer guten Nachfrageentwicklung aus der Krise kommen. Ich kann mir aber vorstellen, dass wir „Kurzläufer“ anbieten, die zunächst nur für ein Jahr gelten. Ansonsten werden wir normal verhandeln. Wir werden unseren Forderungen Nachdruck verleihen und im Zweifel auch Corona-konforme Streiks durchführen.  

Vielen Dank für das Gespräch.