In Deutschland garantiert das Grundgesetz Tarifautonomie (GG, Artikel 9, Absatz 3). Demnach hat jeder das Recht Vereinigungen zu bilden, um die Arbeitsbedingungen zu wahren und zu fördern. Diese Funktion übernehmen Gewerkschaften, die mit Arbeitgeber-Verbänden oder mit einzelnen Unternehmen sogenannte Tarifverträge aushandeln. Darin einigen sich beide Seiten zum Beispiel auf die Vergütung, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen.
Diese Tarifverträge schaffen einheitliche Voraussetzungen für den Wettbewerb in einer Branche. Sie machen einzelvertragliche Regelungen überflüssig und beruhigen das Arbeitsleben durch die „Friedenspflicht“ während ihrer Laufzeit. Diese besagt, dass Beschäftigte während eines geltenden Tarifvertrages zum Beispiel nicht streiken dürfen und die Arbeitgeber sie nicht aus der Firma aussperren dürfen. In Deutschland werden Tarifverträge meistens für ganze Branchen und Regionen ausgehandelt. Zwar existieren hierzulande auch Firmen- oder Haustarif-Verträge, diese bilden aber die Minderheit.
In allen Fällen gilt: Für die Beschäftigten schließen immer die Gewerkschaften die Tarifverträge ab (nicht die Betriebsräte). Sie bilden also die erste Säule des „dualen Systems der Interessenvertretung“ in Deutschland. Diese Säule umfasst die betriebliche Mitbestimmung auf Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes. Im Fall des öffentlichen Dienstes ist es die Grundlage des Bundespersonalvertretungsgesetzes bzw. der Personalvertretungsgesetze der Länder.
Beide Säulen des dualen Systems (Gewerkschaften und Betriebsräte) unterscheiden sich in ihrer Form und Funktion voneinander, doch im praktischen Alltag kommt es häufig zu Überschneidungen. So wachen die Betriebsräte vor Ort zum Beispiel darüber, dass die tarifvertraglichen Bestimmungen überhaupt umgesetzt und auch eingehalten werden. Auch beim Personal kommt es häufig zu Überschneidungen: Mitglieder von Betriebsräten sind häufig auch in Gewerkschaften und wirken beispielweise in Arbeitsgruppen an Tarifverträgen mit.
Doch seit einigen Jahren geht die sogenannte Tarifbindung in Deutschland zurück – ebenso die Zahl der Beschäftigten, die von Betriebsräten vertreten werden. Was das bedeutet und warum das so ist, erklärt die folgende Data Story in Zahlen und Fakten.
Quelle: Ellguth/Kohaut 2019, Tabelle 5
In 2019 arbeitete nur noch jeder dritte Beschäftigte in Ostdeutschland und nur knapp jeder zweite Beschäftigte in Westdeutschland in einem Betrieb, der an einen Branchentarifvertrag gebunden war. Das sind 22 Prozent (Ost) und 24 Prozent (West) weniger als 1996. Ein deutlicher Rückgang! Die starken Unterschiede zwischen Ost und West lassen sich historisch erklären: Die Wiedervereinigung 1990 hat die ostdeutsche Wirtschaft komplett umgekrempelt. Zum Beispiel entstanden viele neue Unternehmen, die sich keinem Branchentarif verpflichteten. In den neuen Bundesländern (Ost) pendeln sich die Zahlen inzwischen auf einem niedrigen Niveau ein – in den alten Bundesländern (West) fallen sie weiterhin.
Die Grafiken hier zeigen die Bindung in einem Branchentarif der vergangenen Jahre. Die anderen Verträge (Firmen- und Haustarifverträge) fallen raus, da sie weniger stark verbreitet sind. Nur 7 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 11 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland unterstanden 2019 einem solchen Tarifvertrag.
Quelle: Ellguth/Kohaut 2019, Tabelle 2
Bei der näheren Betrachtung der Tarifbindung müssen wir zwei Dinge unterscheiden: erstens der Anteil der Betriebe, die einem Tarifvertrag unterliegen (Tarifbindung der Betriebe). Und zweitens der Anteil der Beschäftigten, die in einem Betrieb mit Tarifbindung arbeiten (Tarifbindung der Beschäftigten).
Für Deutschland zeigt sich, dass größere Betriebe häufiger einem Tarifvertrag unterliegen als kleinere Betriebe. Je mehr Beschäftigte ein Betrieb hat, desto höher ist folglich auch die Chance, dass er einem Tarifvertrag unterliegt. Das liegt daran, dass kleinere und mittlere Unternehmen häufig nicht in Arbeitgeberverbänden vertreten sind und deren ausgehandelte Tarifverträge somit nicht bei ihnen gelten. In größeren Betrieben haben Gewerkschaften (und Betriebsräte) wiederum eine längere Tradition und hier entsprechend mehr Macht und Einfluss, die Interessen der Beschäftigten durchzusetzen.
Quelle: Ellguth/Kohaut 2019, Tabelle 4
Quelle: Statistisches Bundesamt (2020)
Die Tarifbindung unterscheidet sich in den einzelnen Wirtschaftszweigen deutlich voneinander. Auf den obersten Plätzen finden sich die Öffentliche Verwaltung/Sozialversicherung, die Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, das Baugewerbe sowie der Bereich Energie/Wasser/Abfall und Bergbau – auf den unteren Plätzen rangieren die Wirtschaftszweige Information und Kommunikation, Einzelhandel, Großhandel, KfZ-Handel und -reparatur.
Warum geht die Tarifbindung so stark zurück? Hierfür gibt es mehrere
Gründe:
Allen voran steht der
Wandel unserer Wirtschaft von der Industrie- zur
Dienstleistungsgesellschaft. In einigen Dienstleistungsbranchen
spielen Tarifverträge keine so große Rolle wie in der Industrie oder
im Bereich der Energiegewinnung. Dies liegt ebenfalls an neuen
Betriebsstrukturen. Bildeten in der Industrie einige wenige
Großbetriebe den Schwerpunkt, sind es im Dienstleistungssektor viele
kleine Betriebe, welche die Branche prägen. Das erschwert es
Gewerkschaften, Mitglieder zu organisieren und so Einfluss zu
gewinnen, um Tarifverträge durchzusetzen. Hinzu kommt, dass sich
immer weniger Unternehmen Arbeitgeber-Verbänden anschließen, die
Tarifverträge aushandeln. Theoretisch könnten Betriebe
Öffnungsklauseln nutzen, um ihre individuellen Interessen zu
vertreten. Doch die Sorge vor zu hohen Kosten, zu starker
Lohnkonkurrenz und mangelnder Flexibilität scheint größer.
Quelle: ETUC 2020
Der Blick über den Tellerrand hinaus auf Europa zeigt: Beim Anteil der Beschäftigten, die von Tarifverträgen erfasst sind, liegt Deutschland (mit 56 Prozent) im europäischen Mittelfeld.
Beim Ländervergleich muss man allerdings beachten, dass sich der Rechtsrahmen für die Tarifbindung von Land zu Land unterscheidet. In Österreich müssen zum Beispiel Arbeitgeber in Branchenkammern eintreten, weshalb hier die Tarifbindung sehr hoch ist. Und Belgien sowie Frankreich erklären die Mehrheit der Tarifverträge für die gesamte Branche als allgemeinverbindlich, wodurch sie automatisch für alle Arbeitgeber (und damit auch für ihre Beschäftigten) gelten. Ebenso spielt es eine Rolle, ob in den europäischen Ländern Tarifverhandlungen auf Branchen- oder auf Unternehmensebene geführt werden.
BIS 50
BESCHÄFTIGTE
51-500
BESCHÄFTIGTE
>500
BESCHÄFTIGTE
Quelle: Ellguth/Kohaut 2019, Tabelle 6
Langfristig betrachtet geht auch die Zahl der Betriebsräte zurück, wie die Grafiken hier zeigen (Betriebe ab mehr als fünf Beschäftigten abgebildet). Mittlerweile ist die Prozentzahl einstellig: Nur noch 9 Prozent aller Betriebe in Deutschland (Ost und West) haben einen Betriebsrat . Zum Vergleich: Um 2000 herum waren es noch 12 Prozent. Immerhin: Mittlerweile pendelt sich die Zahl auf diesem niedrigen Niveau ein. Blickt man tiefer auf den Anteil der Beschäftigten, die in Unternehmen mit Betriebsrat tätig sind, treten die Rückgänge im Zeitverlauf sogar noch deutlicher hervor. In Ostdeutschland zeigte sich zuletzt eine leichte Zunahme. Ob hier nur von einer kurzen Phase der Stabilisierung oder gar von einer Trendwende gesprochen werden kann, ist allerdings noch unklar.
Ähnlich wie in der Tarifbindung spielt auch bei der Verbreitung der Betriebsräte die Größe des Unternehmens eine wichtige Rolle: In kleinen Betrieben gibt es so gut wie kaum Betriebsräte – in großen Betrieben mit mehr als 500 Beschäftigten profitieren die Beschäftigten hingegen überwiegend von einem Betriebsrat. Zudem fällt auf, dass bei kleinen Betrieben (5 bis 50 Beschäftigte) die Betriebsräte seit den 2000er-Jahren leicht zurückgehen (5 Prozent in West und 4 Prozent in Ost). Noch deutlicher offenbart sich die rückläufige Tendenz bei den Betrieben zwischen 51 und 500 Beschäftigten: Hier ist die Verbreitung von Betriebsräten besonders zurückgegangen. Die Großbetriebe hingegen bleiben in ihren Zahlen in den vergangenen Jahren weitestgehend stabil. Die rückläufige Tendenz gilt also nicht uneingeschränkt für alle Betriebe in gleicher Weise.
Quellen:
1996-2016: Ellguth/Kohaut 2017, S. 285
2018: Ellguth 2019, S. 8
2019: Ellguth 2020, S. 8
Der Zeitvergleich zeigt: Die Zahl der Betriebe, die eine Tarifbindung und einen Betriebsrat haben (Kernzone), hat sich in den vergangenen Jahren deutlich vermindert. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist der Anteil von Beschäftigten in Betrieben, die sowohl einen Branchentarifvertrag als auch einen Betriebsrat besitzen, von 41 auf 24 Prozent in Westdeutschland bzw. von 29 auf 14 Prozent in Ostdeutschland gesunken.
Ellguth, Peter (2020): Ist die Erosion der betrieblichen Mitbestimmung gestoppt? IAB-Forum. https://www.iab-forum.de/ist-die-erosion-der-betrieblichen-mitbestimmung-gestoppt/?pdf=11573, letzter Aufruf 07.04.2021
Ellguth, Peter (2020): Ost- und Westdeutschland nähern sichbei der Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung an. IAB-Forum. https://www.iab-forum.de/ost-und-westdeutschland-naehern-sich-bei-der-reichweite-der-betrieblichen-mitbestimmung-an/?pdf=15827, letzter Aufruf 07.04.2021
Ellguth, Peter; Kohaut, Susanne (2017): Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung: Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2016. In: WSI-Mitteilungen, 70(4), 278–286.
Statistisches Bundesamt (2020): Erwerbstätige und Arbeitnehmer nach Wirtschaftsbereichen, https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabellen/arbeitnehmer-wirtschaftsbereiche.html, letzter Aufruf 07.04.2021
Ellguth, Peter; Kohaut, Susanne (2019): „Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung. Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2018.“ http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/Daten_zur_Tarifbindung.xlsx, letzter Aufruf 07.04.2021
ETUC (2020): „EU countries with weak collective bargaining have lowest wages“, https://www.etuc.org/en/pressrelease/eu-countries-weak-collective-bargaining-have-lowest-wages, letzter Aufruf 07.04.2021