Deutschland ist dem Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt beigetreten. Damit wird ein Zeichen gesetzt, dass alle Menschen ein Recht darauf haben, sich in der Arbeitswelt frei von Gewalt und Belästigung zu bewegen. „Arbeitswelt“ wird in der Konvention sehr breit gefasst: Nicht nur die eigentliche Arbeitsstätte gehört dazu, sondern auch Dienstreisen, Arbeitsveranstaltungen und Arbeitsunterkünfte oder der Weg von oder zur Arbeit sind damit gemeint. Explizit wird darüber hinaus die arbeitsbezogene Kommunikation genannt, auch vermittelt durch Informations- und Kommunikationstechnologien. Das ist ein Aspekt, der in Zeiten von mehr Homeoffice an Bedeutung gewinnen wird. Außerdem wird anerkannt, dass häusliche Gewalt Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben kann. In der Übereinkunft wird festgehalten: Auch einmalige Vorfälle inakzeptabler Belästigung und Gewalt sollen in der Arbeitswelt keinen Platz haben.
Die unterzeichnenden Staaten verpflichten sich zu entsprechenden Maßnahmen in den Bereichen Schutz und Prävention, Durchsetzung und Abhilfemaßnahmen, Leitlinien, Schulungen und Sensibilisierung. Diese Maßnahmen ergänzen im Idealfall die bestehenden Bestimmungen im Arbeitsschutz – etwa bei der Gefährdungsbeurteilung im Bereich psychischer Faktoren – und im Strafrecht.
Doch wie ist der Umsetzungsstand im Bereich Melde- und Streitbeilegungsmechanismen in den Betrieben? In Deutschland haben über alle Branchen und Betriebsgrößen hinweg 38 Prozent aller Betriebe ein Verfahren für den Umgang mit möglichen Fällen von Mobbing oder Belästigung am Arbeitsplatz. Dieser Anteil steigt, je größer der Betrieb ist, und unterscheidet sich deutlich zwischen einzelnen Branchen. Im Bereich Erziehung und Unterricht haben beispielsweise knapp 67 Prozent aller Betriebe ein solches Verfahren, während nur 27 Prozent der Betriebe im Bereich Baugewerbe/Bau, Abfallentsorgung, Wasser und Stromversorgung angeben, über ein Verfahren für den Umgang mit möglichen Fällen von Mobbing oder Belästigung am Arbeitsplatz zu verfügen (ESENER 2019).
Eine weltweite Studie im Auftrag der Internationalen Arbeitsorganisation zur globalen Verbreitung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt gibt Aufschluss über die Nutzung von offiziellen Beschwerdeangeboten bei entsprechenden Vorfällen. In der Studie geben nur ungefähr die Hälfte (54 Prozent) derjenigen, die von Gewalt und Belästigung betroffen waren, an, ihre Erfahrungen mit jemandem geteilt zu haben. Für diese Zurückhaltung nennen sie unterschiedliche Gründe. Die meisten gehen davon aus, dass eine Beschwerde Zeitverschwendung ist (55 Prozent) (International Labour Organization and Lloyd’s Register Foundation, S.38). Zudem ist vielen unklar, wie das Verfahren dafür in ihrer Organisation ist. Auch die Personen, die anderen ihre Erfahrungen mitgeteilt haben, sprechen vor allem mit Familienangehörigen oder Freund*innen darüber (84,9 Prozent) und nicht mit offiziellen Stellen (International Labour Organization and Lloyd’s Register Foundation, S.41/43). Diese Ergebnisse weisen zunächst darauf hin, dass – wenig erstaunlich – Gewalt und Belästigung sensible Themen sind, über die Menschen nicht mit jedem/r sprechen. Damit innerbetrieblichen Melde- und Streitbeilegungsmechanismen auch genutzt werden, müssen diese also zunächst einmal einfach zugänglich und bekannt sein, aber auch als wirksam und vertrauenswürdig erlebt werden.
In der wissenschaftlichen Diskussion wird nicht jede vereinzelte Form von Belästigung oder Gewalt als Mobbing bezeichnet. Vielmehr muss die Praktik oder das Verhalten regelmäßig und über einen längeren Zeitraum hinweg stattfinden.
„Mobbing beinhaltet, dass jemand am Arbeitsplatz von Kolleg/Innen, Vorgesetzten oder Untergebenen schikaniert, belästigt, drangsaliert, beleidigt, ausgegrenzt oder beispielsweise mit kränkenden Arbeitsaufgaben bedacht wird und der oder die Mobbingbetroffene unterlegen ist. Wenn man etwas als Mobbing bezeichnen möchte, dann muss dies häufig und wiederholt auftreten (z. B. mindestens einmal pro Woche) und sich über einen längeren Zeitraum erstrecken (mindestens ein halbes Jahr). Es handelt sich nicht um Mobbing bei einmaligen Vorfällen. Es handelt sich auch nicht um Mobbing, wenn zwei etwa gleich starke Parteien in Konflikt geraten“ (Zapf, 1999, S. 3; auf Englisch in Zapf et al. 2020, S. 26).
In Artikel 1 des Gesetzes werden die Begriffe „Gewalt und Belästigung“ näher bestimmt. Sie werden verstanden als „Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“ (BMAS 2023). Kommen diese Verhaltensweisen gegenüber einer Person wiederholt und andauernd vor, spricht man auch von Mobbing (Einarsen et al. 2020, S. 26) oder auch von Bossing, wenn das inakzeptable Verhalten von der/dem Vorgesetzten ausgeht (Lange et al. 2018). Die Konvention geht aber darüber hinaus.
Einarsen, Ståle Valvatne, Helge Hoel, Dieter Zapf, and Cary L Cooper. Bullying and Harassment in the Workplace: Theory, Research and Practice. Milton: CRC Press, 2020.
Zapf, Dieter. Mobbing in Organisationen. Ein Überblick zum Stand der Forschung. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie 43 (1999): 1–25.