Die Pandemie hat einen wahren Digitalisierungsschub am Arbeitsplatz ausgelöst. Für viele Beschäftigte in Deutschland ist das Home Office seit mehr als einem Jahr Alltag. Die Vernetzung mit den Kolleginnen und Kollegen findet durch online-basierte Kommunikations-Tools statt, VPN-Verbindungen sichern den Zugang zu Firmen-Servern, in der Cloud werden Daten mit den Kunden geteilt. Wird diese Entwicklung unser Arbeitsleben nachhaltig verändern? Und wie wirkt sie sich auf unsere Gesundheit aus? Darüber sprachen wir mit Martin Kuhlmann, Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen und Experte für das Thema „Digitalisierung und Arbeit“.
Herr Dr. Kuhlmann, werden wir den Digitalisierungsschub durch die Pandemie nutzen können, um gesunde Arbeit stärker in den Fokus der Beschäftigten und Unternehmen zu bekommen?
Martin Kuhlmann: Es wird sehr davon abhängen, wie die Unternehmen und die Beschäftigten mit den neuen digitalen Technologien und Abläufen umgehen.
Wenn wir in eine Phase „nach der Pandemie“ kommen, ist es aber zunächst wichtig, Präsenz in der Arbeit und echte Kommunikation neu zu beleben. Zu hoffen ist, dass dies eine gemeinsame, produktive Diskussion von Beschäftigten und Vorgesetzten, Management und Interessenvertretungen wird. Nicht einfach zurück in die Welt vor Corona, sondern gemeinsam überlegen, wie gearbeitet und zusammengearbeitet werden sollte. Gelitten haben unter den Pandemiebedingungen übrigens auch die Lernmöglichkeiten. Gemeinsam mit und von den Kolleginnen und Kollegen lernt es sich in der Regel am besten.
Aus unseren Forschungsprojekten wissen wir, dass schlecht gestaltete Arbeitsbedingungen oder Arbeitsabläufe und leider auch unzureichende digitale Arbeitsmittel erhebliche gesundheitliche Belastungen darstellen. Ein Digitalisierungsschub wird daran nur dann etwas ändern, wenn Beschäftigte und Vorgesetzte die Digitalisierung der Arbeitswelt mitgestalten können. Das Wie der Digitalisierung wird eine große Rolle spielen.
Martin Kuhlmann ist seit 2018 Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich „Arbeit und Digitalisierung“. Zu seinen aktuellen Projekten gehört beispielsweise eine Studie zum Thema „Arbeitswelt 4.0 – Problemlagen digitalisierter Arbeit und Herausforderungen für das betriebliche Gesundheitsmanagement“.
Wird es hier durch die Digitalisierung besondere Gewinner und Verlierer geben? Wenn ja, welche sind das?
Kuhlmann: Die Digitalisierung verstärkt sektorale Verschiebungen, die schon seit längerer Zeit zu beobachten sind: höherqualifizierte Tätigkeiten, personenbezogene Dienstleistungen aber auch Tätigkeiten im handwerklichen Bereich werden sich zwar verändern, sind im Grundsatz aber nicht bedroht. Ob Beschäftigte auch hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen, der Bezahlung, beim Thema Gesundheit und dem Wohlbefinden in der Arbeit gewinnen, hängt allerdings eher wenig von der Digitalisierung selbst ab. Vereinfachend, aber die Haupttendenz treffend, gilt: Es hängt davon ab, inwieweit die Beschäftigten an der Gestaltung ihrer Arbeit und ihres Arbeitsumfeldes mitwirken können sowie davon, ob dies mit guten Formen der Zusammenarbeit und kreativen, lernenden Arbeitskulturen einhergeht.
Sie sprechen mit vielen betrieblichen Akteuren zur Thematik „Psychische Belastung durch Digitalisierung“: Was sind erfolgreiche Modelle, die die Beschäftigten entlasten und nachweislich Stress senken?
Kuhlmann: Da wären eine ganze Reihe von Einflussfaktoren zu nennen. Es wäre eher falsch, einen einzelnen Faktor hervorzuheben. Altbekannte Einflussgrößen wie Arbeits- und Leistungsbedingungen, ergonomische Aspekte sowie soziale Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen oder das Verhalten von Führungskräften erweisen sich nach wie vor als sehr wichtig. Ein im ersten Moment erstaunliches Ergebnis unserer Forschung lautet, dass nicht die Digitalisierung an sich psychische Belastungen und Stress erzeugt, sondern dass steigende Belastungen oft eine Folge von nicht gut funktionierender Digitalisierung und einer zu wenig nutzungsorientierten Gestaltung der Digitalisierung sind. Unzureichende Mitgestaltungsmöglichkeiten werden von den Beschäftigten nicht nur als Missachtung der eigenen Fähigkeiten erlebt. Sie schränken auch die Möglichkeiten ein, sich die Arbeit anzueignen, einen eigenen Umgang mit der Arbeit zu finden und sich in der Arbeit wohl zu fühlen und zu entwickeln. Ich komme daher noch einmal auf meinen Hauptpunkt zurück: Ein grundlegendes Element erfolgreicher Modelle gesunder Arbeit besteht darin, den Beschäftigten mehr Möglichkeiten zu geben, an der Gestaltung von Arbeit und Zusammenarbeit und den hierfür notwendigen Ressourcen mitzuwirken.