Die Zahl der Erwerbstätigen ist mit 45 Millionen Menschen derzeit auf einem historischen Höchststand. Im Ruhrgebiet ist die Arbeitslosigkeit aber immer noch überdurchschnittlich hoch. Warum ist das so?
Torsten Withake: Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Der wichtigste ist zweifellos der Strukturwandel in der Region. Die Erblasten der Kohle- und Stahlindustrie wirken noch bis heute nach und haben den wirtschaftlichen Umbau stark ausgebremst. Die Ansiedlung moderner Unternehmen, etwa aus der Auto-, Elektro- und Chemieindustrie, gestaltete sich nach dem Niedergang der Montanindustrie schwierig. Noch dazu war das Ruhrgebiet im Bildungssystem benachteiligt. Bis Mitte der 1960er-Jahre gab es hier keine einzige Universität! Das hat natürlich ebenso den Strukturwandel der Wirtschaft gehemmt, denn Bildung ist dafür eine ganz wesentliche Ressource.
Niedrige und auch fehlende Bildungsabschlüsse sind eine Herausforderung in der Region. Viele Menschen im Ruhrgebiet haben deswegen Schwierigkeiten, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Etwas Statistik hierzu: Der Anteil der Personen ohne einen allgemeinen Schulabschluss lag 2019 im Ruhrgebiet mit 6,7 Prozent deutlich höher als im Bund mit 4,0 Prozent. Zudem gibt es im Ruhrgebiet einen großen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund , die zum Teil Sprachprobleme haben und was ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt schmälert.
Insgesamt gibt es also eine Reihe von Faktoren, die zur hohen Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet beitragen. Arbeits- und strukturpolitische Unterstützungsangebote bleiben deshalb wichtig, um neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Bildung und Sprachkenntnisse der Bürgerinnen und Bürger in dieser Region zu verbessern bzw. anzuerkennen.
Menschen mit geringen Qualifikationen sind in einer besonderen schwierigen Lage. Welche Chancen haben sie auf dem Arbeitsmarkt?
Withake: Menschen mit geringeren Qualifikationen haben meist größere Schwierigkeiten, einen Job zu finden als Personen mit höheren Bildungsabschlüssen oder speziellen Fähigkeiten. Allerdings gibt es auch für diese Gruppe verschiedene Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Berufe, die keine oder nur eine geringe formale Qualifikation erfordern, sind beispielsweise Reinigungskraft, Lagerhelfer, Sicherheitsdienstmitarbeitender oder Zusteller. Dasselbe gilt für viele Tätigkeiten in der Gastronomie und Hotellerie. In diesen Branchen werden Arbeitskräfte gesucht, und allein rund zwei Drittel der dort ausgeschriebenen Stellen sind im Helferbereich angesiedelt, erfordern also keine formale Ausbildung.
Es bleibt für die dort beschäftigen Menschen jedoch wichtig, durch berufliche Weiterbildung oder Umschulung zusätzliche Fähigkeiten zu erwerben. Nur so können sie ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt perspektivisch verbessern. Hierbei unterstützen insbesondere die Agenturen für Arbeit, die Jobcenter und auch das Land Nordrhein-Westfalen mit zielgerichteten Förderprogrammen und Kursen. Denn deren Angebote richten sich nicht nur an Arbeitslose, sondern auch an Beschäftigte, die in ihre berufliche Qualifikation investieren möchten.
Die Situation ist für Menschen mit geringen Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt also insgesamt herausfordernd, aber dennoch haben sie verschiedene Möglichkeiten, um Beschäftigung zu finden und ihre beruflichen Chancen zu verbessern.
Gibt es ausreichend Jobs für Geringqualifizierte im Ruhrgebiet?
Withake: Das ist im Ruhrgebiet regional unterschiedlich und auch abhängig von der Branche, in der man Arbeit sucht. Es gibt etwa im Einzelhandel, im Gastgewerbe oder im Reinigungsgewerbe eine hohe Nachfrage nach geringqualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Es gibt auch Initiativen und Projekte, die sich gezielt für die Integration von Geringqualifizierten in den Arbeitsmarkt einsetzen, wie etwa das Projekt „Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen im Ruhrgebiet“. Trotzdem kann es für geringqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Ruhrgebiet schwierig sein, eine Beschäftigung zu finden, insbesondere wenn mangelnde Sprachkenntnisse oder fehlende Mobilität hinzukommen.
Wie wird sich die Arbeitsmarktentwicklung für Geringqualifizierte weiter entwickeln – speziell im Ruhrgebiet?
Withake: Als gesichert gilt, dass der Trend zu höherer Qualifikation und Digitalisierung in vielen Branchen fortbestehen wird. Das bedeutet zugleich, dass die Nachfrage nach geringqualifizierten Arbeitskräften, vor allem in der Industrie, zurückgeht. Gleichzeitig gibt es trotz dieses Trends in den gerade genannten Arbeitsmarktsegmenten auch weiterhin Bedarf an geringqualifizierten Arbeitskräften. Um deren Beschäftigungsmöglichkeiten zu verbessern, wird es hilfreich sein, gezielte Qualifizierungsmaßnahmen zu nutzen.
Die Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss” (KAoA) ist eine Orientierungsoffensive des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen mit dem Ziel, den Übergang von der Schule in den Beruf zu unterstützen. Die verschiedenen Förderangebote werden kommunal gebündelt und koordiniert.
Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass die Anzahl von Jugendlichen mit niedriger Bildung in den nächsten Jahren steigt, ihre beruflichen Chancen aber weiter sinken. Was ist nötig, um hier gegenzusteuern?
Withake: Um dem entgegenzuwirken, sind verschiedene Maßnahmen erforderlich. Allen voran natürlich die frühzeitige Förderung, die ein wichtiger Schritt ist, um sicherzustellen, dass Kinder und Jugendliche die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, um als Erwachsene auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein. Dabei sollte die Förderung auch soziale und emotionale Kompetenzen umfassen.
Daneben ist es wichtig, dass Jugendliche Zugang zu qualitativ hochwertigen Bildungsangeboten haben, die ihnen eine breite Palette von Fähigkeiten und Kenntnissen vermitteln. Wichtig dabei sind auch Angebote für praktische Fertigkeiten und Berufsbildung.
Schließlich gilt es, junge Menschen mit ihren individuellen Unterstützungsbedarfen in der Beruflichen Orientierung und am Übergang Schule-Beruf abzuholen und zu begleiten. Hierzu gehören auch mehr Praxisphasen und unternehmerische Einblicke für Jugendliche mit Unterstützungsbedarfen, ebenso wie gezielte Begleitung durch Coaching und individuelle Förderung. Das Land Nordrhein-Westfalen verfolgt mit seinen Förderinstrumenten für Jugendliche genau diese Strategie.
Mit dem Landesprogramm „Ausbildungswege NRW“ werden unversorgte, ausbildungsinteressierte junge Menschen mithilfe von Coaches für eine duale Ausbildung gewonnen und bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz unterstützt. Zugleich erhalten Betriebe Unterstützung bei der Besetzung ihrer freien Ausbildungsstellen. Landesweit begleiten 106 Coaches Jugendliche mit Unterstützungsbedarf, und es werden 800 zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen.
Auch mit der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ geht Nordrhein-Westfalen seit mehreren Jahren bereits diesen Weg der individuellen Unterstützung. Im Zuge der Fachkräfteoffensive NRW der Landesregierung werden die Berufliche Orientierung und die Ausbildungsvorbereitung nochmals so weiterentwickelt, dass kein junger Mensch verloren geht. Um Jüngere in ihrer Lebenswelt abzuholen, sind niederschwellige Ansprache-Konzepte und verlässliche Beziehungen von zentraler Bedeutung.
Über verstärkte Partizipation bei der Gestaltung und Weiterentwicklung von Angeboten der Ausbildungsvorbereitung sollte ebenfalls nachgedacht werden. Hierbei sind auch die Unternehmen gefragt, ihre Türen zu öffnen. Sie können Praktika und Ausbildung für schwächere junge Menschen anbieten und diese mit ergänzender Unterstützungsleistung über die Instrumente des SGB III erfolgreich durchführen.
Im Zusammenschluss aller Partner auf Landesebene NRW kann so sichergestellt werden, dass alle Potenziale für Ausbildung gehoben werden und junge Menschen mit niedrigerer Bildung gleichberechtigte berufliche Chancen wahrnehmen können.