Verdrängt atypische Beschäftigung am Arbeitsmarkt in Deutschland die normalen, vollzeitnahen und sozialversicherungspflichtigen Erwerbsformen? Was sind die Ursachen dieser Erwerbsformen und welche Chancen bringen sie am Arbeitsmarkt? Zwei Wissenschaftler ordnen diese Fragen aus unterschiedlichen Blickwinkeln ein.
Verdrängen atypische Beschäftigungsformen das Normalarbeitsverhältnis?
Toralf Pusch: Unabhängige Studien liefern deutliche Hinweise darauf, dass in der Leiharbeit und insbesondere bei den Minijobs Substitutionsprozesse eine Rolle spielen. Das heißt, dass reguläre Beschäftigung durch atypische Beschäftigung ersetzt wird. Die Arbeitskräfteknappheit im Boom der vergangenen Jahre und die Regulierung der Höchstüberlassungsdauer in der Leiharbeit dürften in manchen Betrieben aber zu einem Umdenken geführt haben.
Was sind die Ursachen für die Entwicklung atypischer Erwerbsformen?
Pusch: Entscheidend für den Anstieg der atypischen Beschäftigung ist die deutlich geschwächte Verhandlungsposition der Beschäftigten seit Mitte der 1980er Jahre durch dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit. Politisch kam es in der Folge zu einer zunehmenden Deregulierung des Arbeitsmarktes. So dürfte das deutliche Wachstum befristeter Beschäftigungsverhältnisse ab 2004 vor allem auf die Ausweitung von Befristungsmöglichkeiten zurückzuführen sein. Im Anschluss stieg der Anteil der sachgrundlosen Befristungen an allen Befristungen zwischen 2001 und 2004 sprunghaft von 41 auf 48 Prozent an. 2019 lag dieser Anteil sogar bei 59 Prozent aller Befristungen.
„Die dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit hat seit Mitte 1980 zum Anstieg der atypischen Beschäftigung geführt.“
Bei den Minijobs ist der institutionelle Einfluss noch deutlicher. 2003 ist die Verdienstgrenze für die geringfügige Beschäftigung von 325 auf 400 Euro angehoben worden. Noch wichtiger war die weitgehende Freistellung der Zweitjobs von Sozialversicherungsbeiträgen. In der Folge gab es einen steilen Aufwärtstrend. Diese Entwicklung kann weder durch eine geänderte soziodemographische Zusammensetzung der Beschäftigten noch durch den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft oder den allgemeinen Beschäftigungsanstieg erklärt werden.
In der Leiharbeit haben die beständigen Deregulierungen zwischen 1985 und 2003 zu einem deutlichen Anstieg der Beschäftigung geführt, da lange Beschäftigungszeiten bei einer Entleihfirma möglich wurden. Nachdem der Gesetzgeber 2017 darauf mit einer Reduzierung der Höchstüberlassungsdauer auf maximal 18 Monate reagierte, ging er zurück.
Toralf Pusch leitet das Referat Arbeitsmarktanalyse am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf und forscht u. a. zur Qualität der Beschäftigung.
Sind atypische Beschäftigungsformen ein Sprungbrett in das Normalarbeitsverhältnis?
Pusch: Das kann man so allgemein nicht sagen. Wenn man die Leiharbeit betrachtet, fallen zuerst die mit drei Monaten im Median sehr kurzen Beschäftigungsdauern auf. Außerdem werden in der Leiharbeitsbranche kaum mehr Arbeitslose eingestellt als sie sie umgekehrt wieder in die Arbeitslosigkeit verlassen. Die Übernahme wäre für die Unternehmen auch kostspielig. Häufig wird nämlich eine Ablösezahlung an die Verleihfirma fällig. Trotzdem kann es natürlich sein, dass Leiharbeit Langzeitarbeitslosen beim Übergang in ein Normalarbeitsverhältnis hilft. Allerdings ist dieser Effekt nach bisherigen Studien verhältnismäßig klein. Außerdem ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen an den Einstellungen in der Leiharbeitsbranche mit ca. 17 Prozent sehr gering.
Bei den Befristungen setzt ein großer Anteil der Betriebe Befristungen als verlängerte Probezeit ein. Nach einer Befragung des IAB werden außerdem viele Befristungen im Zusammenhang mit einem langfristigen Personalbedarf vorgenommen. Die Betriebe könnten unter anderen gesetzlichen Rahmenbedingungen also stärker auf unbefristete Beschäftigung setzen. Genau das ist nach einer gesetzlichen Änderung zur Begrenzung der Befristungen zuletzt auch passiert: Im vergangenen Jahr ist die Befristungen erstmals seit Jahren deutlich zurückgegangen, ohne dass die Arbeitsmarktentwicklung Schaden genommen hat.
Bei den Beschäftigten mit einem Neben-Minijob geht es in der Regel um einen kleinen Nebenverdienst zur Verbesserung der Einkommenssituation. Ähnliches gilt für Studenten und Rentner. Auch bei den Arbeitslosen ist der Minijob wohl eher kein Sprungbrett in eine höherwertige Beschäftigung, darauf deuten Befunde in der Forschung hin.
Verdrängen atypische Beschäftigungsformen das Normalarbeitsverhältnis?
Holger Schäfer: Das kann ich klar verneinen. Seit Inkrafttreten der Arbeitsmarktreformen in den 2000er Jahren nimmt das Normalarbeitsverhältnis relativ stark zu. Die atypische Beschäftigung hat teilweise zugenommen, teilweise abgenommen. Bei der geringfügigen Beschäftigung hat es beispielsweise kurz nach der Reform unter Schröder 2003 einen Anstieg gegeben. In den letzten Jahren haben wir aber einen Rückgang, den auch die Einführung des Mindestlohns beschleunigt hat. Ähnlich ist es bei der Befristung: Da haben wir seit 2005 auch kein überproportionales Wachstum. Anders ist es bei der Teilzeit : Die über 20 Stunden hat deutlich zugenommen, die mit geringer Stundenzahl nicht. Das alles müssen wir vor dem Hintergrund der sehr dynamischen und positiven Entwicklung des Normalarbeitsverhältnisses sehen. Auch die atypische Beschäftigung ist gewachsen, allerdings nicht so stark. Enorm zurückgegangen ist dagegen der Anteil der Inaktiven.
Holger Schäfer ist Arbeitsmarkwissenschaftler am Institut der deutschen Wirtschaft. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist Arbeitslosigkeit und atypische Beschäftigung.
Was sind die Ursachen für die Entwicklung atypischer Erwerbsformen?
Schäfer: Da muss man differenzieren: Bei der geringfügigen Beschäftigung oder Teilzeit mit geringer Stundenzahl hängt die Entwicklung vom gesetzlichen Rahmen ab, aber auch von der Frage, ob Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen das attraktiv finden, welche Alternativen sie haben und ob Betriebe Bedarf haben. Es gibt eine Menge Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die nur ein paar Stunden in der Woche arbeiten wollen. Nicht in jedem Fall ist damit gleich ein soziales Problem verbunden.
Befristete Jobs gehen wegen der guten Konjunktur zurück, in der Unternehmen weniger Unsicherheit haben – natürlich hat Corona das geändert, wie wir später an den Statistiken sehen werden. Zudem hat es kleinere Verschärfungen der rechtlichen Regelungen gegeben und eine Rechtsprechung, die die gesetzlichen Befristungsgründe ein Stück weit entwertet haben.
Die Zeitarbeit scheint schon vor Corona vorläufig am Ende des Wachstums angelangt zu sein. Wir wissen nicht, ob das damit zusammenhängt, dass die Konjunktur in Branchen wie der Metall- und Elektro-Industrie bereits schwächelte, die Zeitarbeit besonders nutzen, oder dass 2017 die Regulierung verschärft wurde.
„Einige Formen der atypischen Beschäftigung sind ein Sprungbrett in reguläre Beschäftigung.“
Anders bei der Teilzeitbeschäftigung über 20 Stunden: Wenn wir Arbeitszeitwünsche mit den tatsächlichen Arbeitszeiten spiegeln, wollen viele Teilzeitarbeitnehmer und -arbeitnehmerinnen ein bisschen mehr arbeiten, aber nur wenige Vollzeit. Im Gegenzug wollen mehr Vollzeitbeschäftigte in Teilzeit gehen. Da finde ich es fast schon ärgerlich, wenn so getan wird, als würden Teilzeitarbeitende vom Arbeitgeber an der Vollzeit gehindert. Natürlich kann die Entscheidung unfreiwillig sein, aber eher durch fehlende Betreuungsmöglichkeiten. Das geht einher mit der Erwerbsbeteiligung von Frauen: Waren sie früher überhaupt nicht erwerbstätig, sind sie das jetzt in Teilzeit.
Sind atypische Beschäftigungsformen ein Sprungbrett in das Normalarbeitsverhältnis?
Schäfer: Eine hohe Übernahmequote gibt es im Bereich der befristeten Beschäftigung. Ich habe beispielsweise untersucht, wie erfolgreich ein Arbeitsloser auf dem Arbeitsmarkt ist, der eine befristete Beschäftigung annimmt, im Vergleich zu einem statistischen Zwilling, der dies nicht tut. Die erste Gruppe schneidet dabei viel, viel besser ab. Bei der Teilzeit hängt das meist von den Lebensumständen und Präferenzen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ab. Für die geringfügige Beschäftigung haben wir wenig Hinweise, dass es eine Sprungbrettfunktion geben könnte, weil die meisten keinen Wunsch nach einer Vollzeitbeschäftigung haben. In der Zeitarbeit vermuten wir diese Funktion schon. Nicht unbedingt außerhalb der Zeitarbeit, aber im Prinzip ist ein Job in der Zeitarbeit auch Teil des normalen Arbeitsmarktes. Zeitarbeiter haben dieselben Rechte wie alle anderen Arbeitnehmer. Und die geringere Entlohnung entspricht der durchschnittlich geringeren Qualifizierung für Tätigkeiten. Sie sind auch weniger in betriebliche Prozesse eingebunden und deshalb nicht so produktiv.