Wenn Mütter und Väter die Zeit für Familie und Beruf besser aufteilen können, ist das für uns alle ein Gewinn. Davon ist Dr. Dagmar Weßler-Poßberg überzeugt. Die Expertin für Familienpolitik beim Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos erklärt, wie gute Vereinbarkeit die soziale Sicherung stärkt und wie der Wert der Familienarbeit durch Eltern und Pflegende von der Gesellschaft besser anerkannt werden könnte.
Weshalb ist gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur für Familien wichtig? Welche Potenziale sehen Sie für die Gesellschaft insgesamt?
Dagmar Weßler-Poßberg: Vereinbarkeit soll mir die Entscheidung ermöglichen, wann und wie ich Familie haben möchte, ohne dass ich dieser Frage meine Erwerbstätigkeit opfern muss. Gesamtgesellschaftlich hat das natürlich auch eine Auswirkung: Wir haben weniger Geburten, mehr alte Menschen, und das führt zu einer hohen Belastung unserer Sozialversicherungen. Wenn möglichst viele Menschen umfassend am Erwerbsleben teilnehmen, kommt das auch unserem sozialen Sicherungssystem zugute. Davon profitieren dann auch diejenigen, die keine Kinder haben. Wir sehen zwar durchaus, dass deutlich mehr Mütter als vor 10 oder 15 Jahren erwerbstätig sind: 69 Prozent der Mütter mit einem minderjährigen Kind sind erwerbstätig, bei den Vätern sind es 92 Prozent. Das heißt aber, wir haben immer noch keine wirklich eigenständige soziale Sicherung aller Frauen. Zudem es gibt einen hohen Anteil an Teilzeit : Im Schnitt arbeiten die Frauen 27 Stunden in der Woche. Vereinbarkeit basiert derzeit also immer noch sehr stark auf Teilzeitarbeit mit relativ geringem Stundenumfang.
Dr. Dagmar Weßler-Poßberg leitet das Themenfeld Gesellschaftspolitik bei der Prognos AG. Schwerpunktmäßig arbeitet sie an sozialpolitischen Strategien auf Bundes- Landes- und Kreisebene, der Evaluation von Bundesprogrammen und der Analyse und Weiterentwicklung betrieblicher Rahmenbedingungen.
Wenn Mütter häufiger berufstätig sind, sind Väter dann auch häufiger für die Familie da – und leben Eltern ihren Kindern so mehr Geschlechtergerechtigkeit vor?
Weßler-Poßberg: Wenn man Väter und Mütter befragt, sieht man, dass Frauen gerne etwas mehr und Männer etwas weniger arbeiten möchten. Die Idee der partnerschaftlichen Arbeitsteilung ist gedanklich viel weiter verbreitet als sie real gelebt wird. Viele junge Paare wollen eben nicht die klassische Rollenaufteilung. Die Umsetzung gelingt allerdings deutlich weniger Paaren. Denn im harten Alltag arbeiten die Frauen mehrheitlich in frauentypischen Berufen und haben dort bessere Vereinbarungsmöglichkeiten, aber oft auch ein niedrigeres Einkommen. Die Männer sind eher die mit dem besseren Einkommen. Und dann denken die Familien pragmatisch und landen ungewollt in einer Art “Retraditionierungsfalle”. Ganz besonders scheint das für Familien mit niedrig qualifizierten Berufen zu gelten.
Hat es auch mit Rollenbildern in den Unternehmen zu tun, wenn Paare die partnerschaftliche Arbeitsaufteilung nicht durchsetzen können? Oder eher mit der Angst vor einem Gehalts- oder Karriereknick?
Weßler-Poßberg: Wir sehen ganz klar, dass Teilzeit immer noch eine Frauendomäne ist. Der Anteil der Männer, die Teilzeit für die Vereinbarkeit nehmen, liegt bei sechs Prozent. Und da merkt man, dass alte Rollenbilder in den Unternehmen verankert sind, oft unbewusst. Teilzeit wird eher als Signal gesehen, dass jemand sich in Richtung Familie und nicht ins Berufsleben orientiert. Wir erleben immer wieder, dass die Erfahrungen und Qualifikationen von Menschen in Teilzeit abgewertet werden. Ein Beispiel ist das Stufenmodell, wonach jemand nach vier, fünf Jahren auf derselben Position befördert wird.
“Elternzeit ist für einen ganzen Strang der Forschung keine Auszeit, sondern informeller Kompetenzerwerb.”
Da sagen viele Unternehmen, dass Teilzeitbeschäftigte die doppelte Zeit ansammeln müssen, weil sie rein zeitlich weniger Erfahrungen sammeln können. Hier sehen wir also nach wie vor eine versteckte Präsenzkultur. Deshalb haben viele Männer Angst, in Teilzeit zu gehen. Für solche Unternehmen wäre es ein wichtiger Schritt, dass noch mehr Väter von ihren oft mehr als 40 Stunden auf beispielsweise 35 Stunden die Woche runtergehen und Führungskräfte so erleben, dass das keine Einbußen bedeutet. Es gibt aber durchaus andere Modelle in Unternehmen: Bosch hat zum Beispiel die Elternzeit in den Katalog der Aufstiegskriterien integriert und bewertet sie genauso wie einen Auslandsaufenthalt oder andere berufliche Erfahrungen. Es gibt einen ganzen Strang in der Forschung, der die Elternzeit nicht als Auszeit, sondern als weiteren, informellen Kompetenzerwerb wertet.
Wie erreicht das Bewusstsein für den Nutzen von Vereinbarkeit die breite Masse der Unternehmen?
Weßler-Poßberg: Das Bewusstsein ist bei der Mehrzahl der Unternehmen vorhanden, doch das allein reicht nicht aus. Ich glaube, dass Vereinbarkeit genauso zu einem Controlling-Thema werden muss wie andere Bereiche. Dass Unternehmen genau hinsehen: Wer von meinen Beschäftigten nutzt meine Vereinbarkeitsangebote? Wer kann sie überhaupt nutzen? Ich glaube, in vielen Unternehmen ist noch nicht angekommen, dass Vereinbarkeit wirklich eine Frage der Unternehmenskultur ist. Sie wird vielmehr als Mittel zum Zweck betrieben, damit die Bewerberzahlen besser werden. Dass aber jede Entscheidung im Unternehmen Einfluss auf die tatsächliche Vereinbarkeit hat, ist noch nicht durchgängig angekommen.
Erziehung und familiärer Zusammenhalt beeinflussen, wie gefestigt, rücksichtsvoll, verantwortungsbewusst und vieles mehr wir als Gesellschaft insgesamt sind. Ist es da nicht angebracht, Familienarbeit auch zu honorieren?
Weßler-Poßberg: Das geht in die Richtung der Familienarbeitszeit. Auch sie soll Eltern die Möglichkeit geben, sich dem partnerschaftlichen Modell anzunähern. Der Verdienstausfall, den meistens der Vater dadurch hat, würde dann teilweise vom Staat ausgeglichen. Und wenn Unternehmen merken, dass es funktioniert und sie die Väter nicht ganz verlieren, könnte ich mir vorstellen, dass die ausgewogenere Arbeitsaufteilung zwischen Eltern zu einer neuen Norm wird.
Und wie wird die Arbeitswelt den Bedürfnissen und Leistungen pflegender Angehöriger gerecht?
Weßler-Poßberg: Auch hier sind es oft die Frauen, die ihre Arbeitszeit längerfristig für Pflege reduzieren. Nicht selten in einer Sandwichrolle: Die Kindererziehungszeit ist gerade vorbei, also fangen Mütter an, sich ihren Berufsweg wiederaufzubauen. Und dann kommt die Pflege Angehöriger. Diese Brüche in den Erwerbsbiografien setzen sich also fort. Im Gegensatz zur Situation bei der Betreuung von Kindern können Unternehmen auch nicht sicher sagen, dass die Person irgendwann wieder verfügbar ist. Denn in der Pflege ist das häufig umgekehrt: Sie kann von jetzt auf gleich notwendig werden, ist also schwer planbar, und der Pflegeaufwand wird im Verlauf der Zeit oft extremer, während die Arbeitszeit immer weiter zurückgeht. Und auch die Beschäftigten selbst gehören mehrheitlich zu den Älteren, bleiben also aus Sicht der Unternehmen ohnehin nicht mehr allzu lange im Betrieb. Da ist die Hürde für die Entwicklung von Modellen recht groß und die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf in vielen Unternehmen noch eine Baustelle. Hier ist die Politik tatsächlich stärker gefragt, pflegende Angehörige zu unterstützen und den gesellschaftlichen Wert ihrer Pflegearbeit anzuerkennen.