Ein Erfolgsmodell: So wird das duale Ausbildungssystem in Deutschland häufig bezeichnet. Die Vorteile liegen auf der Hand: Für die Auszubildenden erleichtert die Verbindung von Theorie und Praxis den Einstieg ins Berufsleben. Unternehmen können ihre eigenen Fachkräfte direkt ausbilden und sich so ein Stück unabhängig vom Arbeitsmarkt machen.
Auch die im europäischen Vergleich geringe Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland wird unter anderem auf die duale Ausbildung zurückgeführt. Denn gerade für Jugendliche mit mittleren Schulabschlüssen stellt sie eine Möglichkeit dar, eine vollqualifizierende Berufsausbildung außerhalb des akademischen Systems zu erlangen. Und da die Ausbildung auf die fachlichen Bedarfe der Unternehmen zugeschnitten ist, eröffnet sie gute Chancen auf eine anschließende Beschäftigung. So zeigen Studien über Ländergrenzen hinweg einen Zusammenhang zwischen der Ausbildung nach einem dualen System und einer geringen Jugendarbeitslosigkeit. Nicht umsonst versuchen deshalb heute viele europäische Länder, das duale Ausbildungsmodell zu adaptieren.
Das duale Ausbildungssystem ist in Deutschland marktwirtschaftlich organisiert. Finden Bewerberin bzw. Bewerber und Betrieb am Ausbildungsmarkt zusammen, schließen sie einen Ausbildungsvertrag, welcher die wesentlichen Aspekte der dualen Ausbildung im Betrieb regelt. Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge zeigt die quantitative Bedeutung der dualen Ausbildung. Sie schwankte stark in Zeitverlauf seit der Wiedervereinigung.
Die allgemeine Lage der Wirtschaft ist ein Faktor, der die Zahl der erfolgreich abgeschlossenen Ausbildungsverträge beeinflusst. Während noch 2007 eine Rekordzahl an Ausbildungsverträgen neu abgeschlossen wurde, sank die Zahl infolge der Finanz- und Eurokrise drastisch. Erst seit 2013 hat sich die Entwicklung wieder stabilisiert – allerdings auf einem niedrigeren Niveau als in den 2000er Jahren.
Auffällig ist: Trotz eines konstanten Wirtschaftswachstums seit 2013 ist die Zahl der neuen Ausbildungsverträge nicht wieder nennenswert gestiegen. Damit lässt sich die Gesamtentwicklung – ein Rückgang von mehr als 16 % zwischen 2007 und 2019 – also nicht zufriedenstellend mit der wirtschaftlichen Lage erklären.
Quelle: BIBB, 2020: Datenreport zum Berufsbildungsbericht, BIBB-Erhebung zum 30. September, S. 43
Wo liegen also weitere Gründe für diesen Rückgang? Einen ersten Ansatzpunkt liefert ein Blick auf die Betriebe, die (potenziell) Ausbildungsplätze anbieten. Im Vergleich zu 2010 gab es im Jahr 2018 zwar deutlich mehr Betriebe insgesamt, jedoch bildeten weniger von ihnen Auszubildende aus. Der Anteil der Ausbildungsbetriebe an allen Betrieben ist also seit 2010 gesunken – und zwar bei Unternehmen jeder Größe.
Trotzdem gibt es unterschiedliche Entwicklungen je nach Betriebsgröße. Die Zahl der Kleinstbetriebe hat sich kaum verändert, aber die Zahl der ausbildenden Kleinstbetriebe ist um ein Viertel gesunken. Es gibt also auch in absoluten Zahlen immer weniger Kleinstbetriebe, die ausbilden. Bei kleinen, mittleren und Großbetrieben ist es etwas anders: Zwar gibt es heute mehr ausbildende Betriebe als 2010. Trotzdem ist auch hier die Zahl der Ausbildungsbetriebe nicht im gleichen Maß gewachsen wie die Zahl der Betriebe insgesamt.
Quelle: BIBB, 2020: Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2020, Beschäftigungsstatistik der BA, S. 192; BIBB, 2013: Tabellen zum Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2013, Beschäftigungsstatistik der BA, S. 8
Dass prozentual immer weniger Betriebe ausbilden, liegt nicht unbedingt daran, dass sie nicht mehr ausbilden wollen – oftmals fehlt es an geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern, um die offenen Plätze zu besetzen.
Die Zahl der gemeldeten unbesetzten Ausbildungsplätze verdreifachte sich zwischen 2010 und 2018. 2019 verbesserte sich die Situation zwar leicht, es blieben dennoch mehr als 10% der angebotenen Ausbildungsplätze unbesetzt.
Woran liegt dieser starke Anstieg an unbesetzten Ausbildungsplätzen? Haben die Jugendlichen das Interesse an der dualen Ausbildung verloren? So einfach ist diese Frage nicht zu beantworten: Zwar ist die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber insgesamt etwas zurück gegangen. Trotz demografischen Wandels und einem Trend zum Studium gibt es durchaus noch genügend Jugendliche, die sich für eine Ausbildung interessieren. Das Problem ist ein anderes: Jugendliche finden immer seltener einen Ausbildungsplatz in ihrem Wunschberuf. Die Zahl der unversorgten Bewerberinnen und Bewerber ohne eine Alternative – also Jugendliche, die ohne einen Ausbildungsplatz zunächst keine weitere Perspektive für ihren beruflichen Werdegang haben – hat sich seit 2010 mehr als verdoppelt. Bezieht man zusätzlich die Jugendlichen mit ein, die eine Alternative zu der angestrebten dualen Ausbildung gefunden haben (etwa eine schulische Ausbildung, eine Übergangsmaßnahme, einen weiteren Schulabschluss, ein Studium oder einen Job), ist die Zahl der unversorgten Bewerberinnen und Bewerber leicht rückläufig. Dennoch blieben 2019 12,3 % der ausbildungsinteressierten Jugendlichen ohne den gewünschten Ausbildungsplatz – und es gibt dauerhaft mehr unversorgte Bewerberinnen und Bewerber als unbesetzte Plätze.
Quelle: Bundesagentur für Arbeit, 2020: Berufsausbildungsstellen und Bewerber für Berufsausbildungsstellen
Betriebe und Jugendliche finden am Ausbildungsmarkt immer seltener zusammen. Davon sind jedoch nicht alle Ausbildungsberufe in gleicher Weise betroffen. Ganz im Gegenteil: Während einige Berufsgruppen händeringend nach Bewerberinnen und Bewerbern für freie Plätze suchen, gibt es in anderen Berufsgruppen bei weitem nicht genügend Ausbildungsplätze, um alle Jugendlichen, die eine Ausbildung machen möchten, zu versorgen.
2019 blieb mehr als ein Drittel der Plätze zur/zum Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk unbesetzt. Dies entsprach mehr als 3.100 unbesetzten Lehrstellen. Besetzungsprobleme gibt es sowohl in sehr spezifischen Berufen (wie Gerüstbauer/-in oder Klempner/-in) als auch in breit einsetzbaren Berufen mit grundsätzlich hohem Fachkräftebedarf (wie Fachverkäufer/in im Lebensmittelhandwerk oder Bäcker/in). Eine dauerhafte Nichtbesetzung dieser Lehrstellen wird daher auch in Zukunft als Fachkräftemangel spürbar werden.
*Kriterien: mind. 600 unbesetzte Stellen und mind. ein Anteil von 25 % unbesetzten Stellen an allen angebotenen Stellen
Auf der anderen Seite können beispielsweise nur knapp 70% der Bewerberinnen und Bewerber für einen Ausbildungsplatz als Mediengestalter/-in Digital und Print versorgt werden. Ähnlich beliebt ist der Beruf Sport- und Fitnesskaufmann/-frau.
*Kriterien: mind. 500 unversorgte Bewerber/-innen und mind. ein Anteil von 20 % unversorgten Bewerber/-innen an allen Bewerber/-innen für diesen Beruf
Wie lässt sich dieses Passungsproblem – also das gleichzeitige Auftreten von Besetzungs- und Versorgungsproblemen – erklären? Warum ist dieses Problem gerade in den letzten Jahren immer größer geworden?
Ein wichtiger Erklärungsfaktor ist das gestiegene Bildungsniveau der Jugendlichen: 2015 gab es erstmals mehr Bewerberinnen und Bewerber mit Studienberechtigung als mit Hauptschulabschluss.
Quelle: BIBB 2020, Tabelle A1.1.1-1
Die Bewerberinnen und Bewerber mit Studienberechtigung bringen andere Interessen und neue Ansprüche an die Ausbildung mit. Vor allem den Ausbildungsberufen, die traditionell eher geringere Anforderungen an ihre Bewerberinnen und Bewerber stellen und die ihre Plätze lange Zeit vor allem durch Jugendliche mit Hauptschulabschluss besetzt haben, fehlt es an Bewerbungen. Denn Jugendliche mit Studienberechtigung nehmen diese Ausbildungsberufe als weniger attraktiv wahr. Sie fragen vor allem Ausbildungsberufe nach, die höhere Anforderungen stellen und ihnen gute Ausbildungsbedingungen, einen hohen zukünftigen Verdienst und gute Weiterentwicklungsmöglichkeiten bieten.
Das heißt also: Die im Vergleich zu früher höhere Vorbildung und entsprechend höheren Erwartungen der ausbildungsinteressierten Jugendlichen an Gehalt, Karriere und gesellschaftliche Anerkennung bedingen, dass Angebot und Nachfrage am Ausbildungsmarkt nicht mehr so gut zusammenpassen.
Politik und Betriebe haben dieses Problem erkannt. Das 2019 eingeführte „Gesetz zur Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung“ versucht, die duale Ausbildung attraktiver zu machen. Neuerungen sind zum Beispiel eine Mindestvergütung und transparente Fortbildungsstufen, um Karrierewege aufzuzeigen. In der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ arbeiten unterschiedliche Akteure aus Politik und Wirtschaft gemeinsam an Maßnahmen, um mehr Betriebe und Jugendliche zusammenzubringen. Dabei geht es auch darum, dass Betriebe überdenken, welche Anforderungen sie tatsächlich an Auszubildende haben und ob Bewerberinnen und Bewerber infrage kommen, an die sie bisher nicht gedacht haben – zum Beispiel Jugendliche, die (noch) nicht fließend Deutsch sprechen oder die mit einer Behinderung leben. Das Modell der assistierten Ausbildung schafft Zugänge zur dualen Ausbildung für junge Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Jugendliche werden durch Angebote wie Vorbereitungskurse, Bewerbungstrainings und Nachhilfe bei dieser Schwelle unterstützt und bis zum erfolgreichen Abschluss begleitet.
BIBB, 2020: Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2020 https://www.bibb.de/dokumente/pdf/bibb_datenreport_2020.pdf, letzter Aufruf: 01.12.2020
BIBB, 2013: Tabellen zum Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2013 https://datenreport.bibb.de/media2013/BIBB-Datenreport_2013_Tabellen-Internet.pdf, letzter Aufruf: 01.12.2020
Bundesagentur für Arbeit, 2019: Berufsausbildungsstellen und Bewerber für Berufsausbildungsstellen (Monatszahlen für September) https://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/201909/iiia5/ausb-ausbildungsstellenmarkt-mit-zkt/ausbildungsstellenmarkt-mit-zkt-d-0-201909-pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=1, letzter Aufruf: 01.12.2020
Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2020: Berufsbildungsbericht 2020. https://www.bmbf.de/upload_filestore/pub/Berufsbildungsbericht_2020.pdf, letzter Aufruf: 01.12.2020
Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2010: Berufsbildungsbericht 2010, https://www.bzaek.de/fileadmin/PDFs/za/ZFA/berufsbildungsbericht_bmbf.pdf, letzter Aufruf: 01.12.2020
Eurostat, 2020: EU-27, Harmonised unemployment rate by sex - age group 15-24, https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/UNE_RT_A__custom_180303/default/table?lang=de, letzter Aufruf: 01.12.2020
Statistisches Bundesamt (2020): Erwerbstätige und Arbeitnehmer nach Wirtschaftsbereichen, https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabellen/arbeitnehmer-wirtschaftsbereiche.html, letzter Aufruf 07.04.2021