Der Begriff Fachkräftemangel ist in aller Munde, doch längst müssen wir auch von einem Arbeitskräftemangel sprechen. Die steigende Zahl offener Stellen für Helfertätigkeiten von 139.000 in 2018 auf 176.000 in 2022 (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2023) macht dies deutlich. Wenn man davon ausgeht, dass Helfertätigkeiten überwiegend von Geringqualifizierten ausgeübt werden, stellen also Personen ohne formalen Berufsabschluss ein Arbeitskräftepotenzial dar, das dazu beitragen kann, den Arbeitskräftebedarf zu decken.
Ergänzend dazu zeigen wir in diesem Beitrag, dass ein nicht unerheblicher Teil der Geringqualifizierten Tätigkeiten erledigt, für die typischerweise eine berufliche oder sogar eine akademische Ausbildung erforderlich ist. Insofern könnten Geringqualifizierte auch dazu beitragen, Fachkräfteengpässe zu reduzieren. Klar ist, dass dazu die Anstrengungen verstärkt werden müssen, um diese Potenziale durch Weiterbildung oder Qualifizierung zu heben. Bislang wird diese Personengruppe allerdings nur unzureichend von Fort- und Weiterbildungsangeboten erreicht.
In der Öffentlichkeit wird das Bild von „Geringqualifizierten“ stark durch Debatten geprägt, die die Defizite dieser Personengruppe betonen. Schon allein die Verwendung des Begriffes „gering“ deutet auf etwas Fehlendes, Unvollständiges hin. Dabei meint „geringqualifiziert“ lediglich, dass keine formale Berufsausbildung abgeschlossen worden ist – also nicht mindestens eine zweijährige betriebliche oder fachschulische Ausbildung erfolgreich absolviert wurde. Unabhängig davon, was die tatsächlichen Kompetenzen (Kenntnisse, Erfahrungen, Fertigkeiten und Fähigkeiten) in dieser Personengruppe sind, wird in der Regel davon ausgegangen, dass Grundlegendes fehlt, um sich zu qualifizieren.
Deshalb lohnt zunächst ein Blick auf die Kompetenzen Geringqualifizierter. Dazu ziehen wir Auswertungen des Nationalen Bildungspanels (NEPS) zu Rate (Kruppe/Baumann 2019). Exemplarisch zeigen wir hier in Abbildung 1 die Kompetenzverteilung für das Lesen, differenziert nach dem höchsten Bildungsabschluss. Für Details und Ergebnisse, die sich auf andere Kompetenzen wie Mathematik, Naturwissenschaften, Informations- und Kommunikationstechnologie beziehen, siehe Kruppe/Baumann (2019).
Die Abbildung macht deutlich, dass die Lesekompetenz mit höherem Abschluss höher ist. Das trifft aber nicht nur auf die Personen mit berufsqualifizierendem Abschluss, sondern auch für die ohne Berufsabschluss (rot gestrichelt umrandet) zu. Bezüglich der Lesekompetenz kann man sogar sagen, dass der gleiche Schulabschluss mit vergleichbaren Lesekompetenzen verbunden ist. So haben etwas mehr als 60 Prozent der Abiturientinnen und Abiturienten höchste Lesekompetenzwerte – egal, ob sie einen berufsqualifizierenden Abschluss haben oder nicht. Ähnlich bei Personen mit Mittlerer Reife oder Hauptschulabschluss.
Das heißt aber auch, dass die sogenannten „Geringqualifizierten“ eine äußerst vielseitige Personengruppe und die Voraussetzungen für eine Qualifizierung dementsprechend unterschiedlich sind. Es sind häufig grundlegende Kompetenzen vorhanden. Zwar zeigen die Auswertungen, dass für einen Teil der Geringqualifizieren durch eine Alphabetisierung zunächst die Grundlagen geschaffen werden müssen, so dass sie (auch eigenständig) lernen können. Aber Qualifizierungsprogramme, die Teilnehmende allein anhand des Merkmals „geringqualifiziert“ auswählen, sind zu wenig zielgruppenspezifisch als dass sie wirklich erfolgreich sein können. Wichtig für eine zielgruppengerechte Qualifizierung ist zunächst, die vorhandenen Kompetenzen bei jedem Einzelnen zu erfassen. Anschließend sollten gemeinsam mit den Teilnehmenden individuelle Lern- und Qualifizierungsziele erarbeitet werden, die auf ihren jeweiligen Stärken aufbauen.
Ein weiteres Bild über Geringqualifizierte, das in der Öffentlichkeit immer wieder bedient wird, ist, dass Geringqualifizierte „nur“ Helfertätigkeiten ausüben. Um das zu prüfen, betrachten wir die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (ohne Auszubildende) im Juni 2022 nach Bildungsabschluss der Beschäftigten und dem Anforderungsniveau der beruflichen Tätigkeit (Abbildung 2).
Von den etwas mehr als 33 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland haben etwa 3,4 Millionen (ca. 10 Prozent) keinen formalen Berufsabschuss. Allerdings muss man von noch höheren Anteilen ausgehen, denn es gibt auch 2,9 Millionen Beschäftigte, für die in den Daten keine Angaben zum Bildungsabschluss vorliegen. Es gibt klare Indizien dafür, dass es sich bei diesen Beschäftigten in der Mehrheit um Personen ohne (anerkannten) berufsqualifizierenden Abschluss handelt.
Betrachtet man das Anforderungsniveau der beruflichen Tätigkeit, in denen die Geringqualifizierten beschäftigt sind, so zeigt sich, dass lediglich etwas mehr als 40 Prozent eine Tätigkeit auf Helferniveau ausübt. Etwa die gleiche Anzahl ist in beruflichen Tätigkeiten zu finden, für die typischerweise ein berufsqualifizierender Abschluss erforderlich ist. Doch Geringqualifizierte sind sogar in noch höherwertigen Tätigkeiten zu finden: 5 Prozent auf Spezialisten- und 5 Prozent auf Expertenniveau. Wenn man einer beruflichen Tätigkeit nachgeht, für die man eigentlich einen höherwertigeren Abschluss benötigt, sprechen wir auch von unterqualifizierter Beschäftigung. Dieser Anteil der unterqualifizierten Beschäftigung liegt bei den Beschäftigten ohne Berufsabschluss mit 53 Prozent besonders hoch.
Auch hier zeigt sich, dass die „Geringqualifizierten“ keineswegs dem vorherrschenden Bild entsprechen, nach dem sie in der Regel Helfertätigkeiten erledigen, sondern eine vielseitige Gruppe sind. Sie üben häufig qualifizierte, wenn nicht hochqualifizierte Berufe aus. Offensichtlich haben sie Kompetenzen, die sie bei ihrer Arbeit einsetzen, die sie sich jedoch nicht zertifizieren lassen können. Ohne Zertifikat(e) ist es jedoch auf dem deutschen Arbeitsmarkt nach wie vor deutlich schwerer, eine ihren Kompetenzen entsprechende Beschäftigung zu finden. Den Betrieb wechseln zu wollen, stellt damit für Geringqualifizierte, selbst wenn sie einschlägige Berufserfahrungen haben, eine schwierige Herausforderung dar. Gäbe es Verfahren, mit denen man sich die informell erworbenen Kompetenzen relativ unkompliziert zertifizieren lassen könnte, würden berufserfahrene Geringqualifizierte auch zur Schließung der Fachkräfteengpässe beitragen können.
Zwei Fragen stehen daher im Raum: Warum nehmen Geringqualifizierte so selten an Fort- und Weiterbildungen teil? Und wie können die zweifellos vorhandenen Arbeits- und Fachkräftepotenziale der Geringqualifizierten gehoben werden? Über die Hürden, betrieblichen Bedingungen, Hintergründe der Weiterbildungsträger und Umstände der Unternehmen wissen wir nach wie vor zu wenig. Hier mehr Klarheit zu schaffen, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, gezielte Maßnahmen entwickeln oder Förderprogramme auflegen zu können. Wichtig ist zunächst, ein Bewusstsein darüber zu schaffen, dass es notwendig ist, zu lernen, um den sich immer wieder verändernden Anforderungen – vor allem im Rahmen der Digitalisierung – auf dem Arbeitsmarkt gewachsen zu sein. Zudem muss ein Verständnis dafür geweckt werden, dass ohne die Qualifizierung Geringqualifizierter die Fachkräftebedarfe zukünftig nicht gedeckt werden können.
Dabei sollte es nicht nur um formale Qualifizierungsmaßnahmen gehen, sondern auch um arbeitsplatzbezogene Lernmöglichkeiten, die sich zum Beispiel durch den Einsatz digitaler Assistenzsysteme ergeben können. Unternehmensnahe Beratung zu staatlichen Förderangeboten und Unterstützung bei der strategischen Personalplanung können helfen, die ungehobenen Potenziale der eigenen Belegschaft zu identifizieren und gezielt zu entwickeln. Dies dürfte auch den Geringqualifizierten in diesen Unternehmen zugutekommen. Außerdem müssen wir besser verstehen, welche Angebote dazu beitragen, dass sich Geringqualifizierte verstärkt weiterbilden. Sollte Qualifizierung eher wie ein Training sein, um möglichst praxisnah auf die Bewältigung einer Arbeitsaufgabe vorzubereiten? Oder sollten hier nicht doch (auch) standardisierte, und damit zertifizierbare Kompetenzen vermittelt werden?
In Beschäftigungsverhältnissen auf Helferniveau sind meist einfache, wenig komplexe Tätigkeiten zu erledigen. Diese Tätigkeiten werden auch als Basisarbeit bezeichnet. In der Regel ist hierfür keine oder maximal eine unter zweijährige (Berufs-)Ausbildung erforderlich (Bundesagentur für Arbeit 2020). Zu Entwicklung und Ausmaß von Basisarbeit lesen Sie auch den Beitrag „Digitalisierung und Basisarbeit. Einfache Tätigkeiten sind manchmal nur schwer automatisierbar“ von Dr. Britta Matthes und Dr. Carola Burkert in der Publikation „Basisarbeit – Mittendrin und außen vor“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von 2021 (S. 146-165).
Interessant ist zudem eine aktuelle Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie zeigt auf, dass Helfertätigkeiten zum erheblichen Teil von qualifizierten, teils sogar hochqualifizierten Fachkräften ausgeübt werden.